Hagen. Fahrverbote für Hagen schließt Prof. Annette Elisabeth Tölle nicht aus. Die Politologin der Fernuni empfiehlt Hagenern, öfter den Bus zu nutzen.

Die Schadstoff-Diskussion in Hagen ebbt nicht ab. Mit dieser Thematik hat sich die Wissenschaftlerin Prof. Annette Elisabeth Töller, Lehrgebiet Politikfeldanalyse und Umweltpolitik an der Fernuniversität in Hagen, intensiv beschäftigt. Unsere Zeitung sprach mit ihr über drohende Fahrverbote, über Grenzwerte und die Sinnhaftigkeit von Lkw-Umleitungen.

Droht Hagen schon bald ein Dieselfahrverbot?

Annette Elisabeth Töller: Die Deutsche Umwelthilfe hat im letzten Jahr Klage gegen das Land wegen des Luftreinhalteplans für Hagen erhoben. In allen Urteilen, die seit 2011 zu Klagen der DUH ergangen sind, haben die Gerichte die jeweiligen Luftreinhaltepläne für nicht rechtmäßig erklärt, weil es mit den darin vorgesehenen Maßnahmen nicht gelingen kann, den Grenzwert der Luftqualitätsrichtlinie so schnell wie möglich einzuhalten. Die Gerichte prüfen zwar jeweils den Einzelfall, aber wenn es zur Verhandlung kommt, kann es gut sein, dass das OVG Münster – wie kürzlich für Köln – für Hagen die Verhängung von streckenbezogenen Fahrverboten verlangt.

Prof. Dr. Annette Elisabeth Töller, Expertin zum Thema Fahrverbote.
Prof. Dr. Annette Elisabeth Töller, Expertin zum Thema Fahrverbote. © FerUniversität | Veit Mette

Und damit dürfen ältere Diesel nicht mehr in die Innenstadt?

Vorausgesetzt, das Land legt dann keine Revision ein (wie jetzt für Aachen erfolgt), muss dann noch der Luftreinhalteplan überarbeitet werden, damit es tatsächlich zu Fahrverboten kommt. Und es müssen etwa auch Schilder bestellt werden – daran scheiterte gerade die Umsetzung des beschlossenen Fahrverbotes zum 1. Oktober in Berlin. Im Moment allerdings führen das Land und die DUH Sondierungsgespräche zu Vergleichsverhandlungen, um gegebenenfalls das Gerichtsverfahren für die vielen betroffenen Städte in NRW – darunter auch Hagen – zu vermeiden.

Also muss Hagen auf diesen Vergleich hoffen?

Auch ein solcher Vergleich heißt nicht, dass Fahrverbote vermieden werden können. In Darmstadt hat es einen solchen außergerichtlichen Vergleich gegeben, der enthielt die Verhängung von zwei streckenbezogenen Fahrverboten. Die neue Regelung im Bundesimmissionsschutz-Gesetz, wonach Fahrverbote erst ab 50 Mikrogramm pro Kubikmeter verhältnismäßig sein sollen, sind übrigens schon von mehreren Gerichten, auch vom OVG Münster, als rechtswidrig bewertet worden – die können Hagen im Zweifelsfall nicht „retten“. Also: Es ist durchaus möglich, dass Hagen noch Dieselfahrverbote einführen wird – aber nicht sicher.

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Wo sehen Sie die Ursachen für ein solches Dieselfahrverbot in Hagen?

Es gibt verschiedene Ursachen, die zusammenspielen. Zunächst gibt es die europäische Luftqualitätsrichtlinie, die in Deutschland – wie häufig im Umweltrecht – auf schwierige Weise umgesetzt wird. Zur Umsetzung verpflichtet ist der Bund. Die Anwendung liegt aber bei den Ländern, die hier auch noch unterschiedliche Zuständigkeiten vorsehen. In NRW wird die Zuständigkeit des Landes von den Bezirksregierungen wahrgenommen, die die Luftreinhaltepläne erarbeiten. Politisch und administrativ umsetzen und finanzieren müssen aber die Kommunen diese Maßnahmen. Im Ergebnis klappt das nicht, das sieht man ja an den immer noch zu hohen Stickstoffdioxid-Immissionen. Zudem: Ohne das 2006 eingeführte und seither ausgebaute Verbandsklagerecht hätte die DUH gar nicht klagen können. Und schließlich: Die Verwaltungsgerichte haben den Gesundheitsschutz und die Einhaltung des europäischen Rechts von Anfang an sehr ernstgenommen, im Zeitverlauf aber noch zunehmend strengere Urteile gefällt – auch in Abhängigkeit von zwei richtungsweisenden Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig in den Jahren 2013 und 2018.

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Halten Sie die Grenzwerte für willkürlich?

Nun ja, Grenzwerte sind insofern immer in gewissem Maße willkürlich, als sie ja irgendeine Zahl festsetzen müssen, und ob diese jetzt 39, 40 oder 41 Mikrogramm pro Kubikmeter lautet, ist bedingt willkürlich. Außerdem beinhalten sie immer eine Abwägung, und die ist politischer Natur. Ich bin keine Naturwissenschaftlerin, aber ich habe verstanden, dass der EU-Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO beruht. Auch in Indien und China gilt dieser Grenzwert, in der Schweiz und Österreich liegt er sogar bei 30 bzw. 35 Mikrogramm pro Kubikmeter, andernorts ist er weniger streng. Die WHO überprüft ihre Richtwert-Empfehlungen regelmäßig. Bereits 2013 stellte sie dabei fest, dass es schon ab einem Grenzwert von 20 Mikrogramm pro Kubikmeter zu Gesundheitsbelastungen kommen kann. Für Ende 2019 ist mit einer neuen Empfehlung der WHO zu rechnen, die voraussichtlich strenger als die jetzt geltenden 40 Mikrogramm pro Kubikmeter ausfallen wird.

Haben Kommunen wie Hagen das Problem unterschätzt oder bewusst verdrängt?

Die Situation, die wir jetzt haben, mit 34 Städten, in denen Fahrverbote schon gelten, wahrscheinlich oder möglich sind, ist das Ergebnis eines kollektiven Scheiterns. Seit Januar 2010 gilt der NO2-Grenzwert, und nirgendwo sind rechtzeitig wirksame Maßnahmen ergriffen worden. In erster Linie sehe ich das Land in der Verantwortung. Aber auch die Bundesregierung hat große Förderprogramme („Sofortprogramm saubere Luft“, 2017), etwa für die Elektrifizierung und Nachrüstung des ÖPNV oder die Digitalisierung der Verkehrssteuerung, erst aufgesetzt, als Fahrverbote schon drohten.

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Welche Rolle können ÖPNV und Radverkehr in Hagen spielen, um die Schadstoffbelastung in den Griff zu kriegen?

In Hagen haben Pkw am Verkehr einen Anteil von 62 Prozent. Das ist viel. Aber um das zu reduzieren, muss man die Rahmenbedingungen für den Radverkehr und zum Beispiel die Taktung des ÖPNV verbessern.

Warum tun sich Politiker so schwer, Maßnahmen zu ergreifen?

Das ist ja klar. Maßnahmen, die etwa bringen, sind entweder unbeliebt, weil sie die Menschen – Privatpersonen, aber auch das lokale Gewerbe – einschränken, man denke an Tempolimits, Umgehungen, Fahrverbote. Das möchten Politiker ihren Wählern nicht zumuten, denn sie wollen ja wiedergewählt werden. Oder sie sind teuer, wie etwa die Elektrifizierung des ÖPNV oder die Digitalisierung der Verkehrssteuerung. Und das ist in Zeiten klammer Haushalte, nicht zuletzt in den nordrhein-westfälischen Kommunen, ein Problem. Selbst bei den Förderprogrammen verbleiben Eigenanteilen von 10 Prozent und mehr.

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Macht ein Lkw-Routing für die Luftreinhaltung wie in Hagen Sinn? Lkw werden hier auf kilometerweiter Umwege geschickt, um einen kleinen Abschnitt am Märkischen Ring zu entlasten.

Das Problem ist, dass das Recht nicht die allgemeine Verbesserung der Luftqualität vorschreibt – wie sollte man das auch messen? – , sondern die Einhaltung der Grenzwerte an bestimmten Messstationen. Um die Immissionsgrenzwerte an diesen Stationen einzuhalten, werden Maßnahmen ergriffen, die woanders – und insgesamt – mehr Immissionen verursachen. Das ist auch in Hamburg infolge der streckenbezogenen Fahrverbote der Fall. Solange damit nicht woanders der Grenzwert verletzt wird, ist das für das Recht ok. Aber nicht für den gesunden Menschenverstand. Der kann aber nicht vor Gericht eingeklagt werden. Maßnahmen wie Fahrverbote oder Lkw-Routing sind immer nur Krücken, um die Grenzwerte einzuhalten. Was wir brauchen, ist eine Verkehrswende. Wenn die Klagen der DUH dazu beitrüge, dass dies jetzt ernsthaft diskutiert wird, wäre dies ein großer Erfolg.

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Was können Hagener konkret tun, um einen Beitrag zur Luftreinhaltung zu leisten?

Gut für die Luft ist es, mit dem Fahrrad zu fahren oder zu laufen. Das ist allerdings bei den NO2-Werten an einigen Stellen in der Hagener Innenstadt im Moment für die Gesundheit nicht empfehlenswert – das ist so eine Art Teufelskreis. Also lieber erstmal Busfahren. Hier könnte man, wie gesagt, in Hagen die Rahmenbedingungen noch verbessern. Das Gewerbe, aber auch Privatpersonen, die vor allem in der Stadt unterwegs sind, sollten auf jeden Fall bei nächster Gelegenheit den alten Diesel abschaffen und vielleicht sogar auf ein Elektroauto umsteigen. Das Programm zur Förderung wurde kürzlich verlängert und der Bonus von 4000 auf 6000 Euro erhöht. Elektroautos sind zwar für das Klima nur so gut wie der Energiemix jeweils „grün“ ist, aber in der Stadt emittieren sie keine Schadstoffe.