Balve. Der russische Überfall ist auch in Balve zu spüren. Eine Geschichte von Mut, starkem Willen und herzerwärmender Empathie.
Der Krieg in der Ukraine – er scheint von Balve weit weg zu sein. Von Balve nach Charkiw ist Osten des Landes sind es laut Google-Rootenplaner 2306,6 Kilometer, über Warschau und Kiew. Selbst nach Lwiw im Westen des Landes, in der Nähe der polnischen Grenze, sind es immerhin 1352,9 Kilometer. Tatsächlich haben die Folgen des russischen Überfalls das Sauerland ganz schnell erreicht. Sie sind noch immer spürbar, selbst am zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns.
Donnerstag, 17.17 Uhr. Natalya Franz ist eines der wichtigsten Gesichter der Ukraine-Hilfe im nördlichen Sauerland. Die Frau aus der westukrainischen Stadt Winnyzja wohnt seit Jahren in Sundern. Gerade hat sie bei Aldi eingekauft. Die Buchhalterin des Balver Hotels „Drei Könige“ nimmt sich, noch im Auto, Zeit für ein Gespräch. Mit dem WP-Reporter spricht sie per WhatsApp-Video: „Dann können wir reden, von Angesicht zu Angesicht.“ Natalya Franz wirkt dankbar, dass sie Gelegenheit hat, ihre Gefühle, ihre Eindrücke, ihre Gedanken zu sortieren. All das, was ihr schon länger durch den Kopf gegangen ist, bricht aus ihr heraus. In Gedanken ist Natalya Franz wieder am 24. Februar 2022.
Sie sieht im Fernsehen und im Internet die ersten Bilder des russischen Angriffs: „Das war erst mal ein Schock. Ich war zwei Tage in meinem Haus und traute mich nicht rauszugehen. Sie war im Kopf so blockiert. Du bist nicht mehr Du selbst.“ Natalya Franz hat die Bilder nicht nur als Ukrainerin gesehen, die mit ihren Landsleuten sympathisiert – sie hat ihre Familie in Gefahr gesehen. Ihre Eltern wohnen immer noch in Winnyzja. Ihre Schwester Maryna indes ist bereits kurz nach Kriegsbeginn geflohen. Längst ist sie im Sauerland in Sicherheit.
März 2022. Der Krieg ist gerade ein paar Tage alt, da beschließen der Balver Schützen-Vorsitzende Christoph „Keksi“ Rapp und Geschäftsführer Thomas Scholz, einen Hilfskonvoi von Balve für die Ukraine zu organisieren. Sie bringen Hilfsgüter zur polnischen Grenze bei Lublin – und sie retten Frauen und Kinder aus Kriegsgebieten jenseits der Grenze.
„Keksi“ Rapp und Thomas Scholz haben fachkundige Hilfe. Natalya Franz hilft bei der Organisation des Hilfstransport, ihre Schwester Maryna fährt mit, ist Vertrauensperson für die erste Gruppe verängstigter Flüchtlinge. Natalya Franz: „Dieser Aufruf, damals zu Beginn meiner ehrenamtlichen Tätigkeit, hat sich mich so was von stark gemacht. Das hat mich aus dem emotionalen Tief geholt.“
Dienstag, 29. März 2022. Kaffee, Kakao, Kuchen und Gespräche: Das klingt wie der Sauerland-Standard für gesellige Runden. Doch diesmal sind 35 Geflüchtete aus der Ukraine im evangelischen Gemeindehaus an der Hönnetalstraße zusammengekommen – zum ersten Mal. Die Einrichtung wird über Monate hinweg eine Gelegenheit für Frauen, Mädchen und Jungs sein, sich in fremder Umgebung zu orientieren. Alles ist neu: Sprache und Schriftzeichen, Behörden und Schule, Krankenversicherung und Geldwirtschaft. Welche Idee hat hinter dem Flüchtlingscafé gesteckt?
Jutta Wilmes erledigt dieser Tage Büroarbeit. Doch über das Flüchtlingscafé spricht sie bereitwillig. Dafür macht sie sogar eine Pause. Jutta Wilmes‘ Mann Dirk hat zum Team des Hilfstransportes gehört. Familie Wilmes nimmt drei Geflüchtete auf. Weil Jutta Wilmes sich aber auch in der Evangelischen Gemeinde engagiert, als Presbyterin, nimmt sie Kontakt zu der inzwischen pensionierten Pfarrerin Antje Kastens auf: „Eigentlich ist die Idee für das Flüchtlingscafé auf Antjes Mist gewachsen. Wie wär’s, wenn wir einfach nur einen geschützten Raum anbieten, wo es etwas gemütlich ist, wo man sich zusammensetzen kann?“ Helfer werden gesucht – und gefunden.
Freitag, 22. April 2022. Die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine ist gewachsen. In Balve gibt es zahlreiche Menschen, die ihnen Unterkunft bieten. Martina Oberste und ihr Mann Heinz gehören dazu. Sie funktionieren eine ungenutzte Einliegerwohnung in eine WG für Geflüchtete um. Drei Frauen, drei Kinder haben sich in der Not gefunden. Die Verständigkeit funktioniert mit Englisch und Google-Übersetzer leidlich. Doch die Blicke der Geflüchteten sprechen Bände. Es sind gemischte Gefühle. Einer der Sechs ist Iryna Maksymchuk. Sie entschließt sich, im Hönnetal zu bleiben: „Balve fühlt sich an wie Erholungsort – wie Baden-Baden.“
Mai 2022. Geflüchtete merken schnell: Ohne Deutsch-Kenntnisse läuft wenig. Sie sehen sich nach Kursen um, auch in Balve findet Unterricht statt. Romuald Koj und Michael Gödde unterrichten wissbegierige Neuankömmlinge. Was wohnungsnah beginnt, endet bald mit Angeboten in Iserlohn, Menden oder Unna. Für Autofahrer mögen die Städte in der Nachbarschaft liegen – für Menschen wie Iryna Maksymchuk beginnt eine Weltreise mit Bus und Bahn. Das Abenteuer Nahverkehr besitzt für sie nur begrenzten Charme. Mal verspätet sich der Bus, mal fällt eine Bahnverbindung aus, und der Dachs legt zwischenzeitlich die Hönnetalbahn zwischen Fröndenberg und Unna komplett lahmt. Iryna Maksimchuk muss Nerven wie Drahtseile haben. Sie fährt und fährt und fährt und lernt und lernt und lernt. Klagen kommen nicht über ihre Lippen.
Dienstag, 3. Januar 2023. Immer mehr Menschen aus der Ukraine sind dabei, sich im Hönnetal zu akklimatisieren. Für sie hat ein neuer Alltag begonnen: Erwachsene besuchen Sprachkurse, Kinder den deutschen Unterricht, ganz Kleine sind in der Kita. Mütter versuchen per Videoschalte, ihren Mädchen und Jungen noch ein bisschen ukrainische Schule zu vermitteln. Fürs Flüchtlingscafé bleibt immer weniger Zeit. Schließlich hilft nur Offenheit: Das Ende des Flüchtlingscafés rückt näher. Die Nikolausfeier im Dezember wird zum würdigen Finale.
Mittwoch, 16 Uhr. Iryna Maksymchuk spricht wenig über sich. Ihre Augen indes sprechen Bände. Sie will raus aus der Job-Center-Betreuung, rein in den Arbeitsmarkt. Gelernt hat sie, dass manche Sauerland-Bürokraten lahm sein können – und andere beweglich. Genau das ist ihre Hoffnung, letztlich wieder als Buchhalterin zu arbeiten. Sie sagt: „Ich habe viel Erfahrung.“ Ihre Augen leuchten.
Donnerstag, 17.17 Uhr. Natalya Franz erzählt von ihren Hilfsprojekten, von Unterstützung durch Privatleute und Unterstützung, von Dankbarkeit in der Ukraine. Plötzlich kippt ihre Stimmung. Sie denkt an den Jahrestag. Ihre sonst so starke Stimme klingt belegt: „Ich denke an das Datum des Jahrestags. Er führt uns zurück. Da wird mir angst und bange, weil der Krieg schon so lange dauert.“