Hagen. Vor 50 Jahren wurden in NRW neue Grenzen gezogen. Der Hochsauerlandkreis gilt als Erfolg. Doch woanders kämpft man um Unabhängigkeit.
Da brennt auch nach fünf Jahrzehnten noch eine Wunde – so sieht es Frank Schmidt. Hohenlimburg sei „ein recht florierendes Städtchen“ gewesen, dessen Niedergang vor allem durch die Zwangsheirat am 1. Januar 1975 mit der benachbarten Stadt Hagen verursacht worden sei. Der Lokalpolitiker Frank Schmidt würde das Rad der nun 50 Jahre zurückliegenden Kommunalen Neugliederung in NRW gerne wieder zurückdrehen und Hohenlimburg erneut zu einer eigenständigen Stadt machen.
Rund 50 Kilometer Luftlinie östlich im Kreishaus in Meschede kann sich Landrat Karl Schneider (CDU) dagegen eines überhaupt nicht vorstellen: dass der Hochsauerlandkreis infrage gestellt wird, der ebenfalls vor 50 Jahren aus den Kreisen Brilon, Meschede und Arnsberg entstanden ist. Ein „großer Wurf“ sei das gewesen.
Und noch einmal knapp 50 Kilometer Luftlinie weiter südlich erklärt Waltraud Schäfer in Bad Laasphe die Vergangenheit zur Vergangenheit. Die SPD-Politikerin ist seit Jahren im Ehrenamt stellvertretende Landrätin des Kreises Siegen-Wittgenstein. Eines Gebildes also, das vor 50 Jahren aus zwei höchst unterschiedlichen Landkreisen mit Menschen ganz unterschiedlicher Prägung gebildet wurde. Und trotzdem heute funktioniert.
Drei Menschen, drei Sichtweisen auf einen Prozess, der vor genau 50 Jahren seinen Höhepunkt hatte: Am 1. Januar 1975 trat das so genannte Sauerland-Paderborn-Gesetz in Kraft, eines von vielen Gebietsreform-Gesetzen, die Nordrhein-Westfalen im Zuge der Kommunalen Neugliederung so formten, wie wir es heute kennen. Namen, die uns heute selbstverständlich über die Lippen gehen, wurden damals erst geschaffen: etwa Hochsauerlandkreis oder Märkischer Kreis. Eigenständige Städte wie Neheim-Hüsten verschwanden und gingen in größeren Einheiten wie Arnsberg auf. Hunderte teils sehr kleine Amtsgemeinden verloren ihre Selbstständigkeit, wurden in größere Städte und Gemeinden eingemeindet. Grenzen wurden teilweisen neu gezogen, Zugehörigkeiten verschoben – teils gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung.
Alles nur Geschichte? Nein, die Folgen sind bis heute zu spüren. Im Positiven wie im Negativen, so der Eindruck, wenn man mit Frank Schmidt, Karl Schneider und Waltraud Schäfer spricht.
Die Erfolgsstory HSK
Es sind eigentlich nur drei in Metall geprägte Buchstaben, doch Karl Schneider hat im Kreistag zweimal dafür gekämpft, dass sie einzigartig bleiben, dass sie keine Konkurrenz aus der Vergangenheit bekommen: HSK, das Kürzel das nun seit Jahrzehnten für den Hochsauerlandkreis steht, ist immer noch das einzig zulässige Autokennzeichen für das 1960 Quadratkilometer große Gebiet zwischen Marsberg und Arnsberg. Obwohl die Gesetzeslage es längst zulässt, dass auch wieder alte Kfz-Kennzeichen wie BRI für Brilon, MES für Meschede oder AR für Arnsberg möglich wären. „HSK – das ist doch identitätsstiftend. Die Buchstaben stehen für eine Erfolgsgeschichte“, sagt Schneider, der seit bald 20 Jahren der Landrat des Hochsauerlandkreises ist. „Das kann doch nicht sein, dass wir das wieder zurücknehmen.“ Karl Schneider wird hier leidenschaftlich.
„Sie brauchen auch Einheiten, die überschaubar bleiben, die die Menschen auch erleben können.“
Vielleicht auch, weil er mit seinen 72 Jahren die damaligen Diskussionen selbst miterlebt hat. Schneider war in der Jungen Union aktiv und quasi revolutionärer Umtriebe verdächtig. Denn die CDU-Nachwuchsorganisation dachte schon vor der Gründung des neuen Kreises über neue Strukturen für ihren Verband nach: über einen Hochsauerland-Kreisverband. Sehr zum Missfallen von vielen Altvorderen in der CDU. „Aber wir Jungen haben gesagt: Lass es uns doch richtig machen“, erinnert sich Schneider.
Dabei sei es ja tatsächlich eine große Aufgabe gewesen: „Die Marsberger sind zwar Sauerländer, aber die waren schon sehr in Richtung Paderborn ausgerichtet“, so der Landrat. „Und die Arnsberger waren eher in Richtung Westen orientiert.“ Hinzu sei gekommen, dass ja nicht nur die Kreise neu gebildet worden seien, sondern auch die vielen kleinen Gemeinden mit ihren Gemeinderäten und eigenen Bürgermeistern in größeren Einheiten aufgingen. „Da haben auch viele in der Kommunalpolitik ihren Einfluss verloren. Da saßen 20 Leute im Gemeinderat – und jetzt sollte nur noch einer den Ort im größeren Stadtrat vertreten“, so Schneider.
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Er hat es in seiner eigenen Stadt miterlebt: Fredeburg ging in der neuen großen Stadt Schmallenberg auf. Der heutige Landrat Karl Schneider erinnert sich, dass Paul Falke, mächtiger Strumpffabrikant und für die CDU Schmallenberger Bürgermeister, ein Skeptiker der Gebietsreform war. „Aber als sie dann beschlossen war und umgesetzt wurde, da hat er sie gestaltet, da hat er gemerkt, dass man Gemeinsamkeit organisieren muss.“ Seine Idee: Es sollte ein Stadtschützenfest organisiert werden, die Menschen sollten zusammen feiern, im Jahr 1977 war die Premiere.
„Nach und nach setzte so eine Identitätsbildung für alle ein“, sagt Karl Schneider, der daraus für seine weitere politische Arbeit Lehren zog: „Wenn man so etwas umsetzen will, dann kann das nur gelingen, indem man die Menschen mitnimmt.“ Im Hochsauerlandkreis sei das in fünf Jahrzehnten gelungen. Sicherlich auch, weil es hier schon ein Sauerland-Gefühl, weil es viele geschichtliche Gemeinsamkeiten gegeben habe, sagt Karl Schneider: „Aber vor allem auch, weil die Bürger die Vorteile, den steigenden Wohlstand erlebt haben. Der wirtschaftliche Aufschwung ist auch mit dem Hochsauerlandkreis gekommen. Vorher war doch die Wahrnehmung in Düsseldorf eher, dass es da im Sauerland ein bisschen Tourismus gibt.“
Für Karl Schneider war das immer auch Ansporn weiterzudenken. Er gilt als einer der Initiatoren der Region Südwestfalen. Ein Gebiet, das fünf Landkreise vom Siegerland bis hoch in den Kreis Soest umfasst, das sich zunehmend erfolgreich als eigentliches industrielles Herz Nordrhein-Westfalens positioniert und bekannt macht. Sind damit die einzelnen Kreise nicht auch langsam zu klein, braucht es gar eine neue Kommunale Neugliederung, die in einer großen Einheit Südwestfalen enden könnte? Da winkt Karl Schneider, der nach den Kommunalwahlen im Herbst in den Ruhestand gehen wird, ab: „So viel Zusammenarbeit wie möglich, ist richtig. Aber sie brauchen auch Einheiten, die überschaubar bleiben, die die Menschen auch erleben können. Es ist schon jetzt sehr weit von Marsberg bis nach Schmallenberg. Aber wenn der Marsberger jetzt auch noch bis in den Märkischen Kreis fahren soll?“
Der Unabhängigkeitskampf vom Hohenlimburg
Frank Schmidt, der Hohenlimburger, hofft dagegen, dass es doch eben dazu noch einmal kommt: zu einer neuen Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen, in der die Hohenlimburg-Frage noch mal neu behandelt wird und am Ende der heutige Hagener Stadtbezirk mit rund 24.000 Einwohnern wieder selbständige Stadt wird. Solch ein Szenario wäre wohl die letzte Hoffnung, da ist Frank Schmidt, 6o Jahre alt, Realist: „Ich sehe nicht, dass es in der Landespolitik in Düsseldorf eine Mehrheit geben könnte, das Thema Hohenlimburg heute noch einmal anzupacken. Allein schon aus Angst, dass dann anderswo auch Begehrlichkeiten geweckt würden.“
„Hohenlimburg ginge es deutlich besser, wenn es eigenständig wäre.“
Zuletzt im Jahr 2004 hatte der Kommunalausschuss des NRW-Landtags einstimmig einen Antrag abgelehnt, Hohenlimburg wieder die Selbstständigkeit zu geben. Begründung: Es sei keine Verbesserung für die Gemeinde zu erkennen. Das sieht Frank Schmidt noch heute ganz anders: „Hohenlimburg ginge es deutlich besser, wenn es eigenständig wäre.“ Eine Einzelmeinung? Genau ist diese Frage nicht zu beantworten. Vor mehr als 20 Jahren gab es eine Befragung der Ruhruni Bochum. Demnach waren 80 Prozent der Hohenlimburger für die Eigenständigkeit.
Aktuell gibt es keine repräsentative Umfrage, wie die Bürger ticken. Aber immerhin gibt es einen Indikator. Die „Bürger für Hohenlimburg“, die Wählervereinigung, für die Frank Schmidt sowohl in der Bezirksvertretung als auch im Hagener Stadtrat sitzt, hat deutlich an Zustimmung gewonnen. Eine Wählervereinigung, die sagt: „Wir streben die Rückgemeindung der bis 1975 selbstständigen Stadt Hohenlimburg an.“ Erstmals trat sie 2009 bei den Wahlen zur Bezirksvertretung an und erreichte gleich fast 13 Prozent der Stimmen, 2015 waren es schon gut 15 Prozent, im Jahr 2020 dann schon fast 24 Prozent. Frank Schmidt wurde Vize-Bezirksbürgermeister.
Und er sagt, dass die Sympathisanten einer Eigenständigkeit Hohenlimburgs keineswegs nur Ältere seien, die in Nostalgie schwelgen würden. „Vor ein paar Jahre ist eine Gruppe junger Leute auf mich zugekommen, die einen neuen Vorstoß für ein unabhängiges Hohenlimburg starten wollte.“ Die Corona-Pandemie habe das Engagement damals aber ausgebremst. Woher kommt aber dieses über Jahrzehnte nicht tot zu bekommende Gefühl, dass Hohenlimburg unter der Heirat mit Hagen gelitten hat? „Die Wurzel des Ganzen ist“, sagt Frank Schmidt, „dass immer mehr Infrastruktur verloren gegangen ist, dass die Innenstadt im Niedergang begriffen ist. Hätten die Menschen das Gefühl bekommen, dass sich mit der Eingemeindung etwas zum Besseren wenden würde, dann hätte man seinen Frieden damit schließen können.“
Aber teilt Hohenlimburg damit nicht einfach das Schicksal vieler kleinerer Städte, die auch mit Innenstadt-Problemen kämpfen? Hat das wirklich mit der Eingemeindung zu tun? Zumal zum Beispiel Historiker Ralf Blank konstatiert, dass Hohenlimburg vor dem 1. Januar 1975 gar nicht mehr die reiche Stadt von früher gewesen sei, sondern der Strukturwandel und die Stahlkrise auch in der Stadtkasse erhebliche Spuren hinterlassen hätten. Doch Frank Schmidt sagt: „Ich nenne da als Gegenbeispiel gerne Gevelsberg. Eine Stadt, die mit Hohenlimburg vergleichbar ist, weiter selbstständig ist – und der es in den Jahren viel besser ergangen ist.“ Eben, weil alle Kräfte dort gebündelt würden. „In Hagen merke ich ja, dass woanders in der Stadt die Hohenlimburger Interessen gar nicht interessieren“, sagt Frank Schmidt.
Das habe man im Frühjahr 2022 wieder erfahren müssen, als mit großem Aufwand ein Bürgerentscheid zum Erhalt des Richard-Römer-Lennebads, des Hohenlimburger Hallenbads, auf den Weg gebracht wurde. Am Ende gab es zwar eine deutliche Mehrheit für den Erhalt, doch die Wahlbeteiligung war zu niedrig, das gesetzlich vorgeschriebene Quorum, das sich auf die Hagener Gesamtbevölkerung bezieht, wurde nicht erreicht. „Ich kann da sogar ein Stück weit die Bürger in anderen Stadtteilen verstehen, die dann nicht zur Wahlurne gehen“, sagt Frank Schmidt. „Dafür ist die Stadt einfach zu groß.“
Er will aber nicht aufgeben, mit seinen Mitstreitern auch im Stadtrat beharrlich für Hohenlimburger Interessen kämpfen. „Ich habe auch überhaupt nichts gegen die Hagener. Das sind zum allergrößten Teil sehr nette Menschen.“ Aber der Plan der Landespolitiker vor gut 50 Jahren sei halt nicht aufgegangen, dass ein florierendes Städtchen wie Hohenlimburg die Stadt Hagen, die damals schon durch den Strukturwandel Probleme gehabt habe, stärken würde: „Stattdessen haben wir jetzt das gleiche Elend wie in Hagen.“
Der innere Friede von Wittgenstein
In Wittgenstein mag das Jahr 1984 schon dazu beigetragen haben, dass die Menschen ihren Frieden machen konnten mit dem neuen Gebilde: Der Kreis Siegen wurde neun Jahre nach der Kommunalen Neugliederung in „Kreis Siegen-Wittgenstein“ umbenannt. Und den Menschen in Bad Berleburg, Bad Laasphe und Erndtebrück wurde das Gefühl vermittelt, dass sie nicht einfach geschluckt wurden. Waltraud Schäfer, die in dem Dorf Niederlaasphe lebt, sitzt seit gut 30 Jahren für die SPD im Kreistag, ist seit Jahren stellvertretende Landrätin. Ist der Kreis Siegen-Wittgenstein eine Erfolgsgeschichte? „Im Großen und Ganzen schon“, sagt sie. Wittgenstein werde von dem weitaus größeren Siegerland nicht vergessen: „Etwa, wenn ich an unser Berufskolleg in Bad Berleburg denke.“
„Uns macht zu schaffen, dass es inzwischen neun Fraktionen im Kreistag gibt, das hat die Arbeit erschwert, aber nicht die alten Kreisgrenzen.“
Eine Rückkehr zur Eigenständigkeit Wittgensteins? „Das ist hier gar kein Thema“, so Waltraud Schäfer. Lokalpatriotismus schlägt sich allenfalls in der großen Verbreitung des alten Wittgensteiner BLB-Kennzeichens nieder, das seit 2014 wieder möglich ist. Vielleicht ist das so, weil der neue Groß-Kreis als Sache der Vernunft wahrgenommen wurde: Im Landkreis Wittgenstein gab es 55 eigenständige Gemeinden, 34 davon zählten nicht einmal 500 Einwohner, das Land war dünn besiedelt, das Bruttosozialprodukt unterdurchschnittlich. Wittgenstein galt in Düsseldorf als ein armer Landstrich.
Trotzdem gab es damals auch Protest und als schmerzhaft wurde empfunden, dass das protestantische Wittgenstein die Höhendörfer Hoheleye, Mollseifen, Neuastenberg und Langewiese an die Stadt Winterberg und den katholischen Hochsauerlandkreis abtreten musste. Waltraud Schäfer kann sich noch daran erinnern, wie damals auch kulturelle Gräben überwunden werden mussten. Verwaltungstechnisch mochte der neue Kreis Sinn machen, doch „Wittis“ und „Sejerlänner“ gelten als sehr unterschiedlicher Menschenschlag. Waltraud Schäfer war das früh egal: „Ich habe mich immer gleich zu den Siegerländern gesetzt – aber da haben manche Älteren schon komisch geguckt und mich gefragt, ob das denn sein muss“, erinnert sie sich Jahrzehnte später lachend.
Das sei aber alles Geschichte. Im Kreistag gebe es keine Trennlinie zwischen Siegerländer und Wittgensteiner Mitgliedern: „Uns macht zu schaffen, dass es inzwischen neun Fraktionen im Kreistag gibt, das hat die Arbeit erschwert, aber nicht die alten Kreisgrenzen.“ Einmal im Jahr tagt der Kreistag nicht in Siegen, sondern in Wittgenstein. Da sei das einzige Mal, dass sie höre, dass andere Kreistagsmitglieder aufstöhnten: „Dann merken sie, wie groß der Kreis ist, wie weit die Strecken sind, die wir immer fahren müssen.“
In einer früheren Version des Artikels stand, dass das frühere Kfz-Kennzeichen des Kreises Arnsberg ARS war. Richtig ist jedoch: Das Kennzeichen lautete AR. Wir haben dies korrigiert.