Wittgenstein.

Für viele Lokalpatrioten war der Neujahrsmorgen vor 40 Jahren ein rabenschwarzer Tag. Am 1. Januar 1975 trat das Sauerland-Paderborn-Gesetz in Kraft. Damit verschwand der Landkreis Wittgenstein nach 190 Jahren als Landkreis von der Landkarte. Bad Berleburg war nicht mehr Kreisstadt, sondern nur noch eine von elf Kommunen im Landkreis Siegen. Auch die Tage des beliebten BLB-Kennzeichens waren fürs Erste gezählt.

Mit einem Federstrich wurden am 1. Januar aus den Ämtern Berleburg, Laasphe und Erndtebrück durch Eingemeindung von 55 bislang eigenständigen Gemeinden die Städte Berleburg und Laasphe und die Gemeinde Erndtebrück. In Berleburg hatten 22 Dörfer - Christianseck wurde erst 1978 ein Ortsteil Berleburgs -- abgestimmt. Alle bis auf eines stimmten der Eingemeindung zu; Wunderthausen lehnte ab.

Streit um die Höhendörfer

Fakten, die für eine Neugliederung sprachen

Bis zur gesetzlichen Neuordnung der Kommunen 1975 beruhten viele Verwaltungseinheiten noch auf Grenzziehungen von weltlichen oder kirchlichen Territorien des 17. oder 18. Jahrhunderts.

Im Landkreis Wittgenstein gab es bis zur Neugliederung 55 eigenständige Gemeinden. 34 davon zählten nicht einmal 500 Einwohner.

Mit 45 635 Einwohnern am 30. Juni 1972 hatte der 488 Quadratkilometer kleine Landkreis gerade einmal eine Besiedlungsdichte von 93 Menschen pro Quadratkilometer.

Das Bruttosozialprodukt der armen Gegend lag bei gerade einmal 68 Prozent des Landesdurchschnitts. Und dies obwohl es zwischen 1969 und 1970 eine Steigerung von 24,5 Prozent gab, die auch dem wachsenden Tourismus zugeschrieben wurde.

Auch mit 121 Industriearbeitern pro 1000 Einwohner lag Wittgenstein deutlich unter dem Landesschnitt von 157.

Trotz Wirtschaftswachstum gab es finanzielle Nöte: Mehr als ein Viertel des Kreishaushalts 1967 von 16 Millionen Mark gingen für die Verwaltungskosten drauf.

Auch die Gemeinderäte von Balde, Birkelbach, Birkefehl und Womelsdorf - bislang Teile des Amtes Berleburg, sagten Ja. Aber nicht zu Berleburg, sondern zur neuen Gemeinde Erndtebrück, der sie mit Wirkung vom Neujahrstag 1975 angehörten. Probleme gab es bei den Höhendörfern: Hoheleye, Mollseifen, Neuastenberg und Langewiese waren seit ihrer Gründung 1713 Teil Wittgensteins und des Amtes Berleburg. Doch die vier Ortschaften wurden gegen viele Widerstände an die Stadt Winterberg und den Hochsauerlandkreis abgegeben.

Damit wurde aus einer zentralen Forderungen von Wittgensteins Landrat Werner Möhl nichts: „Wenn schon ein Anschluss an Siegen, dann aber der ganze Kreis“, wird der Laaspher Sozialdemokrat in der Westfalenpost vom 3. Juli 1974 zitiert. Auch der Vorschlag für eine Neugliederung, den der damalige

Aus heutiger Sicht war es der richtige Weg

Friedhelm Aderhold aus Wemlighausen (Jahrgang 1933) hatte von 1969 bis 1974 ein Direktmandat der SPD im letzten Wittgensteiner Kreistag inne und erlebte so die Debatten aus erster Hand. Später saß der Kommunalpolitiker und letzte ehrenamtliche Bürgermeister Bad Berleburgs (1994 bis 1999) dann von 1984 an 25 Jahre im Kreistag Siegen-Wittgenstein.

1 ie Kommunale Neugliederung 1975 - war sie Fluch oder Segen?Die Kommunale Neugliederung 1975 - war sie Fluch oder Segen?

Friedhelm Aderhold: Letztlich kann ich aus heutiger Sicht nur sagen, dass es der richtige Weg war. Für uns als kleine Ortschaften und als Kreis Wittgenstein wären doch so große Investitionen in Straßen und Kanalisation gar nicht mehr bezahlbar gewesen.

Für mich war es damals die erste Wahlperiode im Kreistag. Wir wussten ja, was kommen würde, weil die Neugliederung in anderen Regionen schon gelaufen war. Es sollte keine Kreise unter 150 000 Einwohner mehr geben. Und neben Wittgenstein sollte damals ja auch Olpe zum Kreis Siegen kommen. Damit wären aber die SPD-Mehrheiten im Kreis Siegen und bei Landrat Herrmann Schmidt weg gewesen. Es ging also politisch ums Eingemachte. Wir als Wittgensteiner Sozialdemokraten haben damals die Vorwärtsstrategie vertreten und uns Hoffnungen auf Zugeständnisse gemacht, beispielsweise bei der Verkehrsanbindung. Leider ist nicht alles so gekommen. Aber den Hickhack, den es zwischen SPD und CDU gegeben hat, der wäre hier vor Ort nicht nötig gewesen. Im Landtag hatten diese beiden Parteien doch alles schon zusammen beschlossen.

2 Alle reden von interkommunaler Zusammenarbeit. Könnte die Großgemeinde Wittgenstein dann nicht die logische Fortführung der kommunalen Neugliederung von 1975 sein?

Ich hätte nichts gegen eine Großgemeinde. Die war ja damals auch schon im Gespräch. Doch wir als reine Freizeitpolitiker hielten das damals für nicht leistbar.

Oberkreisdirektor Wilfried Lückert der Landesregierung unterbreitet hatte, hob enge verkehrliche und sozialen Bindungen der Höhendörfer an Wittgenstein und erhebliche Investitionen des Amtes Berleburg in die künftigen touristischen Aushängeschilder hervor. Vergebens: Das Land glaubte an eine „dynamische Entwicklung Winterbergs“ und daran, dass die Höhendörfer dort besser aufgehoben seien. Landrat Werner Möhl wollte die nördlichen Gebietsverluste an das Hochsauerland noch mit dem Anschluss von Rüspe und Lützel an Erndtebrück kontern, doch die blieben schließlich bei Kirchhundem bzw. Hilchenbach.

„Verlegenheitslösung“

Oberkreisdirektor Wolfgang Lückert, der einer der entschiedensten Gegner der Neugliederung war, sagte: „Ein armer Kreis wird nach dem Zusammenschluss mit einem reichen Kreis weiter arm bleiben“ und nannte die Neugliederung in der Westfälischen Rundschau vom 22. Juni 1968 eine „Verlegenheitslösung.“

In Erndtebrück sah Amtsdirektor Adolf Wörster den Anschluss an Siegen als das kleinere Übel, weil man zu keinem anderen Nachbarkreis so enge menschliche und wirtschaftliche Beziehungen habe wie zu Siegen.

Idee der Großgemeinde ist toll, aber auch illusorisch

Paul Breuer (Jahrgang 1950) gehörte einem politischen Gremium an, das den Zusammenschluss der beiden Landkreise Siegen und Wittgenstein vorbereitete. Später wirkte er dann auch ab 1975 als Kreistagsabgeordneter für die CDU. Nach seiner politischen Karriere als Bundestagsabgeordneter (1980-2003) war er bis 2014 Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein.

1Die Kommunale Neugliederung 1975 – war sie Fluch oder Segen? Die Kommunale Neugliederung 1975 – war sie Fluch oder Segen?Die Kommunale Neugliederung 1975 – war sie Fluch oder Segen? Die Kommunale Neugliederung 1975 – war sie Fluch oder Segen?

Insgesamt gesehen war sie sicherlich eine gute Sache, auch wenn bei weitem nicht alle Wünsche in Erfüllung gegangen sind. Insbesondere das Wittgensteiner Land hat wirtschaftlich den Anschluss gut geschafft und sich integriert. Das zeigt sich auch daran, dass sich die Pendlerströme relativiert haben. Anderseits ist die Verkehrsanbindung nach wie vor ein Problem. Und mangelnde Solidarität. Wenn Kreuztal und Buschhütten in der Frage der Verkehrsanbindung nicht miteinander solidarisch sind, sind sie es schon gar nicht mit Wittgenstein. Kommunales Planen und Handeln ist hier noch zu sehr auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet anstatt auf Kompromisse.

2 Alle reden von interkommunaler Zusammenarbeit. Könnte die Großgemeinde Wittgenstein dann nicht die logische Fortführung der kommunalen Neugliederung von 1975 sein?

Ich halte das für eine tolle Idee, aber es ist heute fast illusorisch. Das sehen wir doch schon an anderen Dingen. Zum Beispiel daran, dass die Wittgensteiner Kommunen beim Thema Schulen viel besser und enger zusammenarbeiten könnten.

In einer heißen Debatte im August 1973 diskutierte der Wittgensteiner Kreistag das Landesgesetz ein letztes Mal und votierte schließlich in einer geheimen Abstimmung mit 20 zu 14 für die Auflösung des Landkreises Wittgenstein und den Anschluss an den Kreis Siegen.

Späte Zugeständnisse an Patrioten

Besonders tragisch für viele Wittgensteiner war, dass damit auch die Hoffnungen auf den Namen „Kreis Siegen-Wittgenstein“ zerplatzten. Mit 19 Zeichen sei der Vorschlag nicht computergerecht hieß es damals, obwohl der Begriff Hochsauerlandkreis immerhin 18 Zeichen zählt und viele andere Landkreise ebenfalls längere Namen trugen.

Erst 1984 wurde aus dem Kreis Siegen der heutigen Landkreis Siegen-Wittgenstein. 15 Jahre später zierten dann auch die Wittgensteiner Farben das Kreiswappen und seit gut zwei Jahren dürfen nun auch Fahrzeuge wieder das BLB-Kennzeichen tragen. Kommt jetzt auch nach 40 Jahren der Landkreis Wittgenstein zurück? Wohl kaum. Aber die lokalpatriotischen Gemüter sind beruhigter. Ohnehin blieb ja vieles beim Alten. Zum Beispiel bei den Vereinen. Hier gibt es ja nach wie vor den Turnbezirk, den Schützenkreis und auch den Sängerkreis Wittgenstein.