Hagen. Die Impfquote bei Influenza ist in Westfalen auf einem Jahrzehnte-Tief: Dabei sind Geimpfte weniger ansteckend, wenn sie doch erkranken
Lars Rettstadt fühlt sich zu einer unmissverständlichen Warnung genötigt. „Schlechte Impfquoten sind ein gefährlicher Trend. Eine Grippeerkrankung kann durchaus tödlich enden“, sagt der Hausarzt und Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe. Denn die Impfquote bei AOK-Versicherten ist auf einem Jahrzehnte-Tief. Einen Grund dafür nennt der Arnsberger Hausarzt Hans-Heiner Decker: „Die Praxis und das Team sind erschöpft, wir haben die Kapazität nicht mehr. Da läuft man dann nicht hinterher.“ Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit.
Nur zehn Prozent lassen sich gegen Grippe impfen
Im vergangenen Jahr haben sich nur etwa zehn Prozent der AOK-Versicherten gegen Influenza impfen lassen. So wenige, wie seit zehn Jahren nicht. Während der Corona-Hochphase waren es immerhin noch 15,2 Prozent. „In Folge der Pandemie und der damit verbundenen intensiven Impfungen legen viele Patientinnen und Patienten eine gewisse Impfmüdigkeit an den Tag“, sagt Rettstadt. Auch Decker vernehme in seiner Praxis eine Trägheit dem Thema gegenüber. „Manche warten im Herbst nur darauf, sich impfen lassen zu können, und manche sehen keine Notwendigkeit, weil sie noch nie etwas Schlimmes erlebt haben.“ Der Großteil habe das Thema satt.
Für viele Menschen ist der Grippeschutz laut Rettstadt in die Ferne gerückt. Viele schätzten sie als weniger bedrohlich ein als eine Corona-Infektion. „Das ist allerdings ein Trugschluss: Die echte Grippe kann ebenfalls schwere Verläufe haben und genauso gefährlich sein“, so Rettstadt. Vor allem ältere oder vorerkrankte Menschen sollten nicht zu fahrlässig mit dem Thema umgehen.
„Die echte Grippe kann ebenfalls schwere Verläufe haben.“
Dass die Zahlen immer weiter zurückgehen, kann sich der Arnsberger Hausarzt Hans-Heiner Decker anhand eines weiteren zentralen Aspektes erklären: Seine Praxis sei überlastet. Praxen in der Umgebung haben zugemacht und man sei fokussiert auf die Aufnahme neuer Patienten. „Man macht das Gröbste, aber man schafft nicht mehr alles, wie man sich das systematisch vorstellt“, so Decker. Diese Tendenz sehe er auch in anderen Orten. Mit der Eins-zu-Eins-Betreuung komme man nicht hinterher, darunter falle auch Beratung zum Thema Grippeimpfung. „Wir machen uns da keine Sorgen drum.“ Denn dafür ist im vollgestopften Praxis-Alltag einfach keine Zeit.
„Das Personal arbeitet am Limit.“
„Wenn Leute mit akuten Themen auf uns zukommen, ist man froh, wenn man den Tag dann irgendwie bewältigt hat“, betont Decker. „Das Personal arbeitet am Limit. Ständig verlangt man neue Dinge von den Mitarbeitern.“ Decker spricht dabei die elektronische Patientenakte (EPA), die elektronische Gesundheitskarte (eGK) oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) an. Neue Herausforderungen, die sein Team stark beanspruchen. Das führe dazu, dass der Einzelpatienten nicht mehr mit der Inbrunst betreut werden könne, wie es früher gewesen sei. Die Hausarztpraxis habe schlichtweg nicht die Zeit, um selbst auf die Patienten zuzugehen und auf das Thema Grippeimpfung aufmerksam zu machen.
Immunsystem wird im Alter schwächer
Dem ist sich auch Lars Rettstadt, Vorsitzender des Hausärzteverbandes, bewusst. Trotzdem appeliert er, das Thema nicht komplett aus den Augen zu verlieren. Das Immunsystem werde mit zunehmendem Alter schwächer. Eine Impfung helfe, es zu trainieren und schütze vor schweren Verläufen. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt: Alle ab 60 Jahren und ab 50 Jahren für Menschen mit Vorerkrankungen sollten sich einmal im Jahr, jeweils vor Beginn der Infektsaison, ab Ende September impfen.
Erst einmal positiv: Laut der Zahlen der AOK ist bei den Versicherten über 60 Jahren die Impfbereitschaft deutlich höher. Das nehmen die beiden Hausärzte auch in ihren Praxen wahr. 2023 ließen sich insgesamt 27,6 Prozent der Über-60-jährigen AOK-Versicherten in Westfalen-Lippe impfen. Doch auch dieser Wert ist auf einem Tiefststand. 2015 gingen noch fast 35 Prozent zur Grippeimpfung.
Skepsis durch Geschichten über angebliche Impf-Folgen
Es gibt viele Menschen, die eine Impfung gänzlich ablehnen. „Insgesamt beobachten wir, dass viele Menschen skeptischer gegenüber Impfungen geworden sind. Begründet liegt das oft in Fehlinformationen, die im Internet kursieren, oder in einer negativen Beeinflussung durch die direkte Umgebung, wenn etwa Geschichten über angebliche Impf-Folgen erzählt werden“, erklärt Rettstadt. „Auch schlechte Erfahrungen nach den Corona-Impfungen spielen eine Rolle“, sagt Decker. Jede und jeder einzelne solle am besten mit seinem hausärztlichen Praxisteam sprechen und sich auf diese Weise informieren.
In der Praxis von Lars Rettstadt werde häufig als Grund angegeben, dass Nebenwirkungen befürchtet würden. Es gehe im Grunde nie um Zweifel an der Wirksamkeit des Impfstoffs. Die Überlegungen seiner Patientinnen und Patienten ließen sich nicht immer rational erklären. Manchmal werde eine Grippeimpfung akzeptiert, aber eine COVID19-Impfung nicht, manchmal sei es umgekehrt. „Und das, obwohl es sich um eine sehr ähnliche Art der Impfung handelt. Beide Impfungen schützen vor sich verändernden Viren“, weiß der Arzt.
Schlechte Impfquoten sind schlecht für die Gesellschaft
Und was ist nun mit jüngeren Menschen? Bei der AOK lag die Grippe-Impfquote 2023 gerade einmal bei 4,1 Prozent. Gehören Menschen nicht zur Risiko-Gruppe, sollten sie sich dann überhaupt impfen oder würden die Vorräte knapp oder das System nur noch mehr überlastet? Die Vorräte seien vorhanden, die Praxen leider mit unzähligen anderen Dingen beschäftigt. Natürlich sorgen bei jungen, gesunden Menschen meist die Abwehrkräfte des Körpers dafür, dass Viren und Bakterien weitestgehend in Schach gehalten werden. Aber wer eine Impfung wolle, der bekäme diese auch.
Denn ganz wichtig und nach Meinung des Dortmunder Hausarztes Lars Rettstadt unumstritten sei auch: „Schlechte Impfquoten sind immer schlecht für die Gesellschaft, weil dadurch das Risiko zu erkranken für alle steigt“, so Rettstadt. Ziel sollte ihm zufolge eine Herdenimmunität sein, die dann auch die Menschen schützen könne, die sich selbst aus bestimmten Gründen nicht impfen lassen können oder wollen.
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