Menden. Neues Supermarkt-Konzept: Rücksicht auf Kunden mit hoher Sensibilität für Licht, Lärm und Gerüche. Wie das gegen Stress helfen kann.

Eine Dame schiebt nahe der Käsetheke den Deckel der Tiefkühltruhe auf und greift nach einer Tüte gefrorener Pommes. Das Rascheln der Verpackung erfüllt den riesigen Verkaufsraum im hinteren Bereich des Supermarktes. Es ist das einzige Geräusch, das im Supermarkt überhaupt gerade zu vernehmen ist. Gut hörbare Stille. So ist es ja auch gedacht bei der „Stillen Stunde“ in der EDEKA-Filiale im sauerländischen Menden.

Stille Stunde? Was ist nun das wieder? Sie ist ein Angebot, das sich vornehmlich an Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen und neurologischen Entwicklungsstörungen wie Autismus richtet. Ihnen wird die Möglichkeit gegeben, reizarm einzukaufen. Deutschlandweit richten immer mehr Supermärkte diese Möglichkeit ein, nicht flächendeckend, aber an manchen Orten zumindest. Die gedämpften 60 Minuten in Menden dürften die ersten dieser Art in Südwestfalen sein.

Leiser sind Scannerkassen und Lautsprecher leise

Als es 16 Uhr schlägt, ist die Lautstärke der Scannerkassen schon heruntergeregelt. „Ganz können wir das nicht ausschalten, weil die Kassiererinnen und Kassierer ein akustisches Signal brauchen, um zu wissen, dass der Artikel auch gebont wurde“, erklärt Bastian Linke, Betriebsleiter des Marktes. Er weiß selbst noch nicht so genau, wie das heute werden wird. Ob das Angebot gut angenommen wird? Was die anderen Kunden vielleicht sagen, die durch Aushänge auf die „Stille Stunde“ aufmerksam gemacht wurden.

Die meisten der kleinen weißen Lautsprecher an der Decke sind ausgeschaltet, aus den anderen ist kaum hörbar etwas Werbung und Musik zu vernehmen. Die Anlage kann ebenfalls nicht gänzlich ausgeschaltet werden, da über sie eine mögliche Notfalldurchsage erfolgen würde, wie Linke erklärt. Die Tür zum Kühlschrank mit dem Salat ganz vorn im Markt quietscht. Eine Frau gibt an der Obstwaage den dreistelligen Code für Elstar-Äpfel ein: pieps, pieps, pieps. Und der Pfandflaschen fressende Automat zermalmt lärmend eine Plastikflasche nach der anderen.

Licht, Lärm, Gerüche: Bei der „Stillen Stunde“ im Supermarkt in Menden herrscht gedämpfte Atmosphäre.
Licht, Lärm, Gerüche: Bei der „Stillen Stunde“ im Supermarkt in Menden herrscht gedämpfte Atmosphäre. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Wenn der Einkauf zur Qual wird

Uwe Hinrichs (56) ist auch im Laden: Frührentner ist er, Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) sind bei ihm diagnostiziert, wie er sagt. Zwei entgegengesetzte Kräfte, die er in sich trägt. Er ist nicht zum Einkaufen da, sondern eine Art „Stille Stunde“-Experte, weil er überall, wo sie ausprobiert wird, dabei sein will – egal, wie weit weg das von seiner Heimat Aurich an der Nordsee auch sein mag. Das Thema betrifft ihn eben. Und er weiß, wie es ist, wenn ein Einkauf zur Qual wird.

„Der Laden wirkt fast optimal. Nur diese Bildschirme sind grausam“, sagt er und zeigt auf einen Monitor, der Kunden im Eingangsbereich schnell wechselnde Bilderfolgen entgegenschleudert. Wenige Meter weiter im Markt: weitere Monitore. Tiefer im Laden leuchten ihm mehrere Lichtstrahler direkt ins Gesicht. „Wir Autisten nehmen alles wahr. Wir laufen mit Informationen voll und wissen dann manchmal nicht mehr, was wir kaufen wollten.“ Autistisches Verhalten ließe sich unterdrücken, maskieren nennt sich das. „Aber dann folgt die Entladung eben später. Und dann liegen wir um 17 Uhr schon völlig fertig auf dem Sofa statt wie sonst um 20 Uhr.“ Die Stille Stunde, sagt er, müsste es in allen Einrichtungen geben.

Der Edeka Markt der leiser wird. Weniger Musik und Störungen sollen den Unterschied zeigen. Ein Rundgang am Dienstag den 16. Juli 2024 in Menden. Im Bild: Betriebsleiter Bastian Linke. Foto:Ralf Rottmann/ Funke Foto Services

„Das war erst der Startschuss. Für uns als Markt ist das kein Aufwand. “

Bastian Linke

In einen Gang, in dem ein anderer Mensch schon steht, würde er nie hineingehen. Auch deswegen gibt es die Anweisung für die Mitarbeitenden, in der Stillen Stunde keine Waren nachzuräumen: kein Geklapper, keine lärmenden Regalwagen, keine Mitarbeitenden in den Gängen. Nur Ruhe. Ruhe, die möglicherweise nicht nur für besonders belastete Menschen, sondern auch für Ältere oder Stressgeplagte angenehm sein kann.

Ist der Unterschied zu sonst denn spürbar? „Ich habe es hier nie als laut empfunden, aber heute ist es noch etwas leiser“, sagt Antonia Wagener (67): „Aber ich bin Rentnerin. Ich habe es gern, wenn was los ist.“ Caren Schneider (57) ist mit ihrer Freundin Angelika Werthschulte (66) im Laden. „Mir ist die Ruhe sofort aufgefallen“, sagt die eine: „Das ist total angenehm.“ Angelika Wertschulte nickt. „Es mag sein, dass es Leute gibt, die das nicht gern haben, wenn der Nebenmann hört, was man so redet. Aber in manchen Läden ist dieses Gedudel aus den Lautsprechern so störend, dass ich manchmal rausgehe.“ Sie plädieren dafür, dass immer „Stille Stunde“ ist.

Stille Stunde jetzt jede Woche oder alle 14 Tage

Die Grünen in Menden hatten den Antrag auf Einführung im Rat gestellt und der Inklusionsbeirat sich um die Umsetzung gekümmert. In der Nachbarstadt Wickede ist das Angebot bereits etabliert.

Um 17.06 Uhr rollen wieder scheppernd die ersten Hubwagen aus dem Lager nach vorn. Normalbetrieb. Stille Stunde vorbei, aber nicht für immer. „Schwer zu sagen, ob heute schon jemand gezielt die Stille Stunde angesteuert hat“, sagt Bastian Linke, der Betriebsleiter. Es sei ein erster Test gewesen. Hinweise zur weiteren Verbesserung der „Stillen Stunde“ hat er aufgenommen. Jeden Dienstag oder alle 14 Tage soll es sie nun geben. „Das“, sagt Linke, „das war erst der Startschuss. Für uns als Markt ist das kein Aufwand.“ Aber für manche Menschen eben eine große Erleichterung.

Weitere Themen aus der Region: