Lüdenscheid. In dieser Woche ist die Sperrung 100 Tage her. Wie verlaufen die Gespräche mit den Anwohnern und warum sind Lärmmessungen gar nicht vorgesehen.
Anfang Dezember ist die Talbrücke Rahmede in Lüdenscheid an der Autobahn 45 wegen Einsturzgefahr gesperrt worden. Drei Monate ist das nun her, ein ganzes Quartal, in dieser Woche 100 Tage. Zeit für eine Zwischenbilanz: Wo steht das Projekt? Was ist schon geschehen? Was wird als nächstes passieren? Welche Fragen sind weiterhin völlig offen?
1. Anwohner: Die Autobahn GmbH Westfalen ist mit 50 Anwohnern im Gespräch. Es geht um vorübergehende Nutzungen von Teilbereichen, aber auch um den Kauf ganzer Grundstücke. Einigungen gibt es noch keine. Gutachter haben die benötigten Flächen und den möglichen Bestand bewertet. „Diese Bewertungen sind nun Grundlage für die möglichen Verträge“, teilt die Behörde auf Nachfrage mit.
+++ Auf sein Grundstück fällt die Talbrücke Rahmede +++
Für Autobahn-Manager und Anwohner ist das eine nicht ganz einfache Gemengelage, weil Interessen kollidieren, sagt Dr. Stefan Kracht, Experte für öffentliches Recht an der Fernuniversität Hagen. „Die Autobahn GmbH ist als öffentliches Unternehmen an das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gebunden“, erklärt Kracht. Heißt: Allzu großzügige Angebote dürfen Hausbesitzer unterhalb der Brücke nicht zwingend erwarten. Ein Gutachter schätzt den Verkehrswert (nicht den Marktwert) der Immobilie. Dies gilt als erste Orientierung. Ist der Verkäufer nicht einverstanden, kann er schlimmstenfalls sogar enteignet und ausbezahlt werden.
„Die Enteignung ist immer das allerletzte Mittel, das die Autobahn GmbH sicher auch vermeiden will“, sagt Kracht: „Denn Enteignungen sind ein starres Verfahren, das lange dauert und auch beklagt werden kann – bis zum Bundesverfassungsgericht. Das kann fünf, sechs Jahre dauern.“ Zeit und Geld, das man einspart, wenn das Angebot etwas üppiger ausfällt. „Wenn da also nur noch ein Grundstück wäre, das den Fortgang der Prozesses behindert, dann kann es haushalterisch sinnvoll sein, das Angebot großzügiger ausfallen zu lassen.“
+++ Anwohner: „Wir wissen nicht, wie wir hier noch leben sollen“ +++
Dennoch könne es natürlich zu Härtefällen kommen, wenn Menschen sich ein Leben an einem Ort aufgebaut hätten, den sie nun verlassen müssten – wissend, dass sie sich mit der Zahlung des Verkehrswerts ihres Hauses kein Objekt in der Größenordnung werden leisten können. „Da könnte die Vermittlung einer Ersatzimmobilie hilfreich sein“, sagt Kracht.
2. Vorbereitungen: Im Februar rückte eine Spezialfirma an, um Bäume zu fällen. Die Experten, die teilweise aus Südtirol kamen, kennen sich in alpinem Gelände aus, wie es sich unter der Rahmedetalbrücke findet. Spezialkräne zogen über eine Art Seilbahn die Stämme aus dem Steilhang. Der Einsatz dauerte einige Tage und machte den Weg frei für die anstehenden Bodenuntersuchungen und die späteren Baustraßen. Für die hat die Autobahn GmbH nach eigenen Angaben schon ein erstes Konzept erstellt. „Die endgültige Lage wird allerdings erst mit der Auftragsvergabe und der Detailplanung für den Bau erarbeitet“, teilt sie mit.
3. Geologie: Wie wichtig die Untersuchungen des Bodens sind, zeigt sich derzeit etwas weiter nördlich an der A 45, wo die Arbeiten an den Talbrücken Kattenohl und Brunsbecke schon lange wieder ruhen, weil der Boden unerwartete Probleme bereitet. „Die geologischen Untersuchungen unter dem Bestandsbauwerk werden – abhängig von Naturschutzvorgaben – voraussichtlich im April beginnen“, teilt die Autobahn GmbH mit Blick auf die Rahmedetalbrücke mit. Zunächst musste das Gelände freigeschlagen werden, um Platz zu schaffen. Zudem verbieten naturschutzrechtliche Vorgaben derzeit die Bohrungen: die Haselmaus zum Beispiel hält noch Winterschlaf.
Das ist die A45-Talbrücke Rahmede
Um Zeit zu sparen, werde das schwere Gerät nicht über Baustraßen angeliefert, „sondern über ein Seilsystem in den Hang gezogen“. Bohrungen können bis zu einer Tiefe von 50 Metern erfolgen. Ziel sei, „die Zusammensetzung und Schichtung des Bodens zu ermitteln“, um die Gründung der Brücke zu planen, so die Autobahn GmbH.
4. Tierschutz: „Es geht bei den Umweltbelangen weniger um einzelne Tiere, als um Lebensräume, für die Ersatz geschaffen werden muss“, erklärt die Autobahn GmbH. Heißt: Es werden Ersatzquartiere in der Umgebung angeboten. Ein Teil der Fledermauskästen – neben der seltenen Zweifarbfledermaus kommen in dieser Region ein halbes Dutzend Arten vor – ist schon funktionsfähig. Für die Haselmaus werden 300 Nisthilfen aufgehängt, in die sie im Frühjahr umziehen. Eine Kontrolle, ob die Ersatzquartiere angenommen werden, erfolgt ebenso.
5. Lärm- und Feinstaub: Das Verkehrschaos auf den Lüdenscheider Straßen und direkt an der Sperrung hat im Vergleich zu den ersten Tagen merklich nachgelassen. Grund dafür: Ein großer Teil des Verkehrs kommt gar nicht mehr in der Stadt an, weil auf Fahrten verzichtet wird bzw. weil großräumige Umfahrungen genutzt werden. Über die Bedarfsumleitung durch die Stadt quälen sich aber noch immer rund 5000 Lkw täglich. Fakten über Lärm und Feinstaubbelastungen, die für Anwohner wichtig wären, gibt es nicht. Bürgermeister Sebastian Wagemeyer geißelte den Fortschritt längst als „zu langsam“.
Besserung ist aber nicht in Sicht. Messungen von „Verkehrsgeräuschen sind im Regelwerk nicht vorgesehen und auch fachlich nicht sinnvoll“, teilt das zuständige Landesamt für Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz (LANUV) auf Nachfrage mit. Grund: Damit könne nur die Geräuschsituation exakt am Messort ermittelt werden. Die Daten seien nicht übertragbar. Zur Ermittlung der Belästigung wird daher eine Verkehrszählung nötig, die allerdings von der Stadt in Auftrag gegeben werden muss.
+++ Anwohner prüfen rechtliche Schritte +++
Offenbar ist aber sogar unklar, ob es überhaupt Messungen seitens des LANUV geben wird. „Ob und ab wann Messungen zur Luftqualität durchgeführt werden, wird zur Zeit innerhalb der Umweltverwaltung abgestimmt“, lässt die Behörde wissen und führt an, dass ausgerechnet 2022 ein schwieriges Jahr sein könnte: „Die alle fünf Jahre vorzunehmende landesweite EU-Umgebungslärmkartierung steht 2022 an und erfordert beim LANUV hohe Rechenkapazitäten für termingebundene Berichtspflichten gegenüber der EU.“ Es könne daher zielführend sein, dass die Stadt Lüdenscheid je nach Verfügbarkeit der Zähldaten gegebenenfalls auch einen Gutachter beauftrage.
6. Sprengung und Neubau: Eine Firma, die auf Sprengungen spezialisiert ist, arbeitet derzeit an einer Ausführungsplanung. „Darin wird nicht nur die Art und Weise der Sprengung erarbeitet, sondern es geht natürlich auch um die Auswirkungen der Sprengung auf die unmittelbare Umgebung und die notwendigen Schutzmaßnahmen“, teilt de Autobahn GmbH Westfalen mit. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte im Februar in einem öffentlichkeitswirksamen Solo festgelegt, dass die Brücke gesprengt werden könne – und dass dies am besten noch 2022 geschehen solle. Ob das klappt, weiß zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand.
Mit der Ausführungsplanung liegt aber zeitnah sozusagen eine to-do-Liste vor, was wann abgearbeitet werden muss. Die Planung sieht derzeit vor, die Rahemedetalbrücke senkrecht zu Boden zu bringen. So war es zuletzt auch bei den Talbrücken Rinsdorf und Rälsbach an der A45 bei Siegen komplikationsfrei geschehen.
Gewiss ist: Es wird sich beim Neubau um eine Stahlverbundbrücke handeln, die sechs Fahrspuren plus Standstreifen aufnehmen kann. Das bedeutet: sie wird breiter als das bisherige Bauwerk. Der Rest? „Die Autobahn Westfalen hat eine Vorplanung, ist aber auch offen für innovative Ideen, die ein Auftragnehmer einbringt“, teilt die Behörde mit.