Lüdenscheid. Zum Neubau der A45-Talbrücke Rahmede türmen sich die Fragen auf - vor allem für die Anwohner darunter. Ein Ehepaar berichtet von seinen Sorgen.

31 Jahre. Das ist, was Monika Gern als Erstes sagt. Einunddreißig Jahre wohnt sie da nun schon mit ihrem Mann, früher auch mit der Tochter. Ein altes Bruchsteinhaus im sauerländischen Lüdenscheid, aus dem die Gerns in drei Jahrzehnten liebevoll ihr Zuhause gemacht haben: Zimmer für Zimmer renoviert, Terrasse gebaut, Teich angelegt, das große Grundstück gehegt und gepflegt. Bäume, auf die man gern blickt und die den Schall schlucken.

Älteres Ehepaar: Die letzten Lebensjahre in Lärm und Schmutz?

„Ich kämpfe jeden Tag, um psychisch damit fertig zu werden“, sagt Monika Gern, „ich bin 71, mein Mann 78. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir uns die letzten Jahre unseres Lebens vorstellen.“ In Dreck und Lärm sicher nicht.

Das ist aber, was das ältere Ehepaar derzeit fürchtet. Denn über ihrem Grundstück, ein kleines Stückchen seitlich versetzt, schwebt die Talbrücke Rahmede, Deutschlands derzeit bekannteste Brücke. Wegen Einsturzgefahr darf sie niemand befahren, die A 45 ist gesperrt. Das fast 500 Meter lange und 100 Meter hohe Bauwerk muss abgerissen und neu gebaut werden – vor der Tür der Gerns.

Vergeblich auf der Suche nach Gewissheiten

Eine Trägersäule der Brücke steht direkt dort, wo ihr Garten endet. Weil zahlreiche Baustraßen angelegt werden müssen, weil Teile des Waldes in dem steilen Gelände gerodet und schweres Gerät aufgefahren werden muss, sind ihre Vorstellungen die schlimmsten: freier Blick auf die Baustelle, Dreck, Schlamm, vom Lärm jeden Tag mal abgesehen. „Wir wissen nicht, wie wir hier weiter leben sollen, wenn das Gebiet so verschandelt wird.“ Das Ehepaar rechnet sogar damit, dass ein Teil ihres Grundstücks, das oben an der Sauerlandlinie endet, für die Bauarbeiten genutzt werden könnte. Sicher ist das aber nicht.

Die Rahmedetalbrücke an der A 45 aus der Luft: Firmen- und Wohngebäude befinden sich in unmittelbarer Nähe.
Die Rahmedetalbrücke an der A 45 aus der Luft: Firmen- und Wohngebäude befinden sich in unmittelbarer Nähe. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Das ist vielleicht das Schlimmste an der ganzen Sache. „Menschen brauchen Gewissheiten. Wenn ich zum Arzt gehe, soll der mir ja auch klar sagen, was die Diagnose und die Therapiemöglichkeiten sind“, sagt Monika Gern. Doch mit ihr und ihrem Mann hat nach eigener Aussage bis Mittwochmittag noch niemand gesprochen.

Pflegedienst unter der Brücke sucht andere Immobilie

Die Stimmung unter der Brücke ist angespannt, da derzeit unklar ist, was dort wie schnell passieren wird – und welche Folgen das hat. Sprengung oder nicht? Das Machbarkeitsgutachten soll nun im Februar vorliegen. Wenn die Brücke in fünf Jahren stünde, dann wäre das eine Rekordzeit. Politik und Wirtschaft drängen. Aber wer kann ausschließen, dass es zehn Jahre dauert?

Thomas Beyer ist Geschäftsführer eines ambulantes Pflegedienstes in Wurfweite der Brücke. Er ist nur Mieter, aber er weiß auch nicht, was werden wird. Schon jetzt beschweren sich Patienten, dass die Mitarbeiter zu spät kämen. Der Verkehr vor der Tür hat zugenommen. Und wenn das alles Baustelle wird, wird es nicht besser. Mit seiner Geschäftspartnerin Sabatina Collaers sucht er nach anderen Immobilien. „Aber es gibt nichts, das passend oder bezahlbar wäre“, sagt er. Der Vermieter, die Wohnungsgesellschaft Mark, weiß auch noch nicht, was das alles für die Immobilie und die Mieter bedeuten wird.

Firma unter der Brücke in regen Austausch mit Autobahn GmbH

Ein Haus weiter wohnt Kurt Kupke. Er kaufte das Haus 1991, mittlerweile gehört es der Schwiegertochter. Sie dachte schon daran zu verkaufen, sagt er. Er aber hat lebenslanges Wohnrecht. „Ich bleibe hier“, sagt er und blickt aus dem Wohnzimmerfenster auf die Brücke. Die Kuckucksuhr schlägt elf. Sollen doch die Bagger kommen.

Sollen die Bagger doch kommen: Kurt Kupke wohnt in Wurfweite der Brücke und denkt nicht daran wegzuziehen.
Sollen die Bagger doch kommen: Kurt Kupke wohnt in Wurfweite der Brücke und denkt nicht daran wegzuziehen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Genau unter der Brücke gibt es eine Firma, deren Grundstück nahe der Gerns endet. Der Chef sei, so sagt er, „in regem Austausch“ mit der Autobahn GmbH. Auch die Familie, die in dem einen Wohnhaus direkt unter der Brücke lebt, sei schon von der Autobahn GmbH informiert worden, berichten die Gerns. Sie hören sich gerade bei allen um. Ihre Fragen treiben sie um.

Vermesser rammen Holzpflöcke in den Boden

Vor zwei Wochen haben die Gerns durchs Fenster gesehen, dass nahe ihres Grundstücks Holzpflöcke in den Boden gerammt worden sind. „Mein Blutdruck ist sofort angestiegen. Wir dachten, dass es schon losgeht.“ Spätestens dann hätte sie sich Informationen von offizieller Seite gewünscht.

Nachfrage dieser Zeitung bei der Autobahn GmbH Westfalen, in welchem Umkreis der Brücke Anwohner informiert werden. Antwort: Auf Anlieger und Grundstückseigentümer „für Bereiche im direkten Umfeld“ der Brücke sei die Autobahn GmbH Westfalen zugegangen“. Am Mittwochnachmittag dann auch auf die Gerns: Sie haben nun einen Termin für ein persönliches Gespräch nächste Woche. Für die Sache mit den Markierungen hatte sich. Elfriede Sauerwein-Braksiek, die Chefin der Autobahn GmbH Westfalen, bereits am Montag öffentlich entschuldigt. Normalerweise würden sich die Vermesser anmelden.

Frühere Kontaktaufnahme

Monika Gern will keinen falschen Eindruck erwecken: Sie will keinen Ärger. Die Brücke sei wichtig, sie müsse gebaut werden. „Realistisch gesehen sind wir hier nur ein paar Einzelpersonen in einem Projekt von großer Bedeutung.“ Andererseits hätte sie sich eine frühere Kontaktaufnahme gewünscht. Wie es weitergeht, weiß sie ja längst noch nicht. Und ob ihr das gefällt schon gleich gar nicht. „Wir haben hier Zukunftsängste.“

Sie mag die Natur. „Da“, sagt Monika Gern, „ein Eichelhäher im Garten.“ Es sei wichtig, dass auf die Umwelt geachtet werde, gerade bei dem Projekt. An die Buntfledermäuse und die Wanderfalken, die unter der Brücke ein Zuhause gefunden hatten, sei gedacht worden. Das ist, was sie nicht versteht. Sie und ihr Mann wohnen doch auch dort. Es ist ihr zu Hause, ihr Nest. „Wir haben in diesem Haus viel erlebt. Die ganzen Familienfeiern...“ Der Satz bleibt ohne Ende. Sie geht in Gedanken die Bilder durch, die an Weihnachten und Geburtstagen entstanden sind. Die Tochter, die in dem Haus groß wurde, lebt nun in England. Dann sagt Monika Gern: „Es fühlt sich an, als würden wir nun gezwungen, dieses Fotoalbum zuzuschlagen.“