Hagen/Lüdenscheid. Eine junge „Feuerteufelin“ soll in Lüdenscheid ihr Unwesen treiben, der Staat wirkt hilflos. Die Justiz sieht sich in einem Dilemma.
Sie hat die zahlreichen Meldungen über die Brände in ihrer Heimatstadt aus der Zeitung ausgeschnitten und abgeheftet. Als würde die Bürgerin Wallburga Jung Beweise für die Hilflosigkeit des Staates sammeln, die sie sieht. Die 83-Jährige zählt auf: 19. März, 20. März, 23. März, 26. März, 2. April. 4. April, 5. April. Und so weiter. Immer wieder brennt es in Lüdenscheid, auch am vergangenen Wochenende wieder. „Die Sache“, sagt Wallburga Jung, „lässt mir keine Ruhe.“
Seit Monaten gehen regelmäßig Container in Flammen auf, meist betrifft es Altpapierbehälter. Mehr als 150 Brände sollen es inzwischen sein. Verantwortlich für die Brandserie soll eine junge Frau sein, die als psychisch krank gilt und die „stadtbekannt“ ist, wie Wallburga Jung formuliert. Auch diverse Behörden kennen die Beschuldigte. Gegen sie laufen inzwischen zwei Strafverfahren. Dennoch bleibt die 22-Jährige auf freiem Fuß und kann damit weiter zündeln, was sie wohl auch tut. Und der Staat? Der gucke nur zu, klagt etwa die Lüdenscheiderin Wallburga Jung.
„Es heißt immer, wir leben in einem Rechtsstaat – und dann kann die Dame machen, was sie will? Das geht doch nicht. Ich verstehe nicht, dass der Rechtsstaat so machtlos und hilflos ist“, sagt die Seniorin, die sich fragt: „Müssen erst Häuser brennen und Personen zu Schaden kommen, bevor der Staat handelt?“
Die juristische Antwort darauf lautet zum Teil wohl: ja. Die Justiz sieht sich in einem Dilemma in diesem Fall, in dem Recht und Rechtsempfinden nicht recht zusammenpassen.
Staatsanwaltschaft Hagen erhebt Anklage
Der Hagener Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli äußert durchaus Verständnis für das Unverständnis von Bürgern wie Wallburga Jung. Es sei der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln, warum man jemanden, der sich „sozial inadäquat“ verhalte, auch mal „aushalten“ müsse. Aber man könne jemanden nicht einfach wegsperren, nur weil er lästig sei und vielleicht Sachschäden verursache. „Es ist nahezu die Definition des Rechtsstaates, dass wir nicht auf Gefühle oder Stimmungen hin, da müsse mal was gemacht werden, lospreschen, sondern erst einmal die rechtlichen Rahmenbedingungen prüfen“, sagt Pauli. Er sieht diesen Fall „an der Grenze zwischen Strafverfolgung und Sozialarbeit“ angesiedelt und daher nicht nur die Justiz gefordert.
Was die Strafverfolgung angeht, da glaubt die zuständige Staatsanwaltschaft Hagen, getan zu haben, was rechtlich möglich ist. Sie hat einen Teil der Brände, für welche die junge Frau verantwortlich gemacht wird, am 13. Dezember 2023 beim Landgericht Hagen (Jugendkammer) angeklagt. Es geht zunächst um 27 Fälle, vor allem aber auch um die Grundsatzfrage, wie mit der mutmaßlichen Serientäterin, die rechtlich bislang als Heranwachsende gilt, strafrechtlich umzugehen ist.
Angeklagt sind 26 Fälle von Sachbeschädigung durch Anzünden von Altpapiercontainern. Hinzu kommt eine versuchte schwere Brandstiftung, weil in dem Fall ein Wohnhaus möglicherweise hätte in Brand geraten können, also Menschen hätten gefährdet sein können. So jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft Hagen versucht zu argumentieren. Die juristische Unterscheidung zwischen einer Sachbeschädigung und einer Brandstiftung ist von Bedeutung, weil ein erheblicher Unterschied beim Strafmaß besteht. Zudem spielt es eine Rolle für die Frage, ob die Angeklagte zwangsweise einer Therapie unterzogen werden könnte, wofür es hohe rechtliche Hürden gibt. Denn in diesem Fall geht es auch um die Schuldfähigkeit der jungen Frau, die laut Oberstaatsanwalt Pauli bereits stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich hat, was bislang aber nur mit Einwilligung der Beschuldigten möglich gewesen sei.
Prozessbeginn erst in Monaten
Teil der Anklage der Staatsanwaltschaft Hagen ist ein psychiatrisches Gutachten. Um eine Unterbringung der jungen Frau etwa in einer Psychiatrie anzuordnen, bräuchte es das Landgericht Hagen. Dessen Jugendkammer aber verwies die Klage der Hagener Staatsanwaltschaft an das Amtsgericht Lüdenscheid, weil es unter anderem auch die angeklagte schwere Brandstiftung nur als Sachbeschädigung wertete und sich damit nicht zuständig sah, wie das Amtsgericht Lüdenscheid bestätigt. Für den Versuch, eine Unterbringung der jungen Frau in einer Klinik zu erreichen, war das ein Rückschlag, denn das Amtsgericht kann darüber nicht entscheiden; dafür müsste das Verfahren zurück ans Landgericht verwiesen werden – das sich ja nicht zuständig sah.
Nun also liegt der Fall am Amtsgericht Lüdenscheid – wie auch eine zweite Anklage, diese datiert vom 10. November 2022. Die Staatsanwaltschaft Bochum, in deren Zuständigkeitsbereich die junge Frau früher wohnte, wirft der Angeklagten 21 Sachbeschädigungen durch Feuer und zwei Brandstiftungen (an Autos) vor.
Dafür muss sich die heute 22 Jahre alte Angeklagte, deren Anwalt sich auf wiederholte Anfrage nicht äußerte, am 2. Oktober dieses Jahres in Lüdenscheid verantworten. Wie das Amtsgericht mitteilt, sollen dann voraussichtlich beide Verfahren verhandelt werden, also insgesamt 50 Fälle, die sich seit Oktober 2021 ereignet haben sollen.
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Angeklagte auf freiem Fuß
Bis zum Prozessbeginn sind es allerdings noch fünf Monate. Wallburga Jung, der Lüdenscheider Bürgerin, dauert das zu lange. Sie befürchtet, dass die Brandserie bis in den Herbst weitergeht und der Fall Nachahmer ermutigen könnte; zumal die Angeklagte, die laut Staatsanwaltschaft Hagen einen Teil der Taten eingeräumt hat und auch wiederholt den Notruf missbraucht haben soll, auf freiem Fuß bleibt, da selbst die wiederholten, mutmaßlichen Vergehen rechtlich nicht schwer genug wiegen für eine Haft.
Wallburga Jung, die Rechtsstaatlichkeit als „hohes Gut“ bezeichnet, möchte, dass der Beschuldigten durch eine Therapie geholfen wird. „Wenn die Frau krank ist, dann sollte der Staat handeln. Man kann die Frau doch nicht so hilflos rumlaufen lassen, dass die alle Container anzündet“, sagt die Seniorin, die sich auch fragt, warum beispielsweise die Stadt Lüdenscheid nicht handele.
Die Stadt, welche die durch die Containerbrände entstandenen Kosten auf bisher rund 115.000 Euro beziffert, erklärt dazu, dass die Strafanzeigen in der Angelegenheit „ergebnislos“ geblieben seien und es Sache der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft sei, auf die Beschuldigte einzuwirken.
Bleibt der Märkische Kreis, bei dem der Sozialpsychiatrische Dienst angesiedelt ist. Dieser bietet Hilfe für Menschen an, bei denen Anzeichen einer psychischen Krankheit bestehen. Zu Einzelfällen macht der Märkische Kreis mit Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht keine Angaben. Grundsätzlich aber könnten Zwangsmaßnahmen gegen den Willen von Betroffenen nur dann erfolgen, wenn eine Eigengefährdung (etwa Suizid) vorliege oder Leib und Leben anderer gefährdet seien. Das ist hier nicht der Fall, die Containerbrände unterlägen eher dem Strafrecht. Ergo: die Justiz sei gefragt...