Berlin/Hagen. Sauerländer und Ex-SPD-Chef: Franz Müntefering über Schwierigkeiten mit Freundschaften, seinen Gedichtband und Friedrich Merz.

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hat im Alter von 84 Jahren seinen ersten Gedichtband veröffentlicht. Der gebürtige Sauerländer tritt nach einer schweren Herz-Operation vor einem halben Jahr wieder in der Öffentlichkeit auf und misst auf Anraten seiner Ärzte jeden Morgen den Puls, stellt sich auf die Waage und trägt das Ergebnis in seinen Terminkalender ein. „Heute waren es 69,3 Kilogramm“, sagt „Münte“ und nimmt sich in seiner Berliner Wohnung Zeit für ein längeres Telefongespräch.

Wie geht es Ihnen, Herr Müntefering?

Ich bin zu drei Viertel wieder hergestellt. So, dass ich wieder selbst für mich sorgen kann.

Hat die Herz-OP Ihren Blick auf das Leben und den Tod verändert?

Das kann man wohl sagen. Sterben wollte ich vor einem halben Jahr absolut nicht. Das habe ich den Ärzten auch so gesagt - natürlich mit einem Lachen auf den Lippen. Wenn man vor einem solchen Eingriff steht, denkt man schon darüber nach, was alles passieren kann und was man noch klären muss. Die Ärzte sagen einem, dass die Chancen groß sind, es zu schaffen. Aber dass sie keine Garantie geben können.

Sie zitieren gerne eine Weisheit aus Ihrer sauerländischen Heimat: Über das Älterwerden muss man nicht reden, älter wird man von allein. Über das Sterben muss man auch nicht reden, man stirbt sowieso. Falsch, oder?

Ein langes Parteileben

Franz Müntefering wurde 1940 in Neheim geboren.

Von 1975 bis 1992 und von 1998 bis 2013 war er Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Von 1998 bis 1999 war er Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, von 2005 bis 2007 Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales.

Müntefering war von 2002 bis 2005 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und von März 2004 bis November 2005 sowie von Oktober 2008 bis November 2009 Bundesvorsitzender der SPD.

Er lebt mit seiner Ehefrau Michelle Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordnete, in Berlin und Herne.

Sein Buch „Nimm das Leben, wie es ist. Aber lass es nicht so - Gedanken, Reime, Geschichten“ ist im Bonner Verlag Dietz erschienen.

Das war falsch und das ist falsch. Man muss sich damit auseinandersetzen. Das Sterben ist ein Teil des Lebens. Ich habe zwei Mal in meinem Leben bewusst den Vorgang des Sterbens miterlebt – bei meiner Mutter und bei meiner zweiten Frau. Sie wussten irgendwann, dass es zu Ende geht. Und wir haben die letzten Tage und Stunden miteinander verbracht. Dann trifft der schwierige Satz zu: Sterben kann auch gelingen. Und doch sterben eine Menge ältere Menschen vereinsamt.

Das Leben im Alter ist ein Thema, das Ihnen sehr am Herzen liegt. Sie waren von 2015 bis 2021 Vorsitzender der BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Viele, die 65 sind, haben sich nie mit dem Älterwerden beschäftigt. Plötzlich fallen Gesprächspartner und Mobilität weg, oder Krankheiten und Beschäftigungslosigkeit belasten einen. Man wird einsam. Aus meiner Sicht könnten Senioren-Seminare für 55- bis 60-Jährige helfen, in denen gelehrt wird, wie man dem Älterwerden entsprechen kann. Ich finde, dass es die Pflicht für ältere Menschen gibt, soziale Kontakte zu halten.

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Das sagen Sie, dem der Ruf des „Alleiner“ vorauseilt?

Ich habe immer Sozialkontakte gehabt. In der Schule, beim Fußball, in der Partei. Ich war immer viel unter Menschen. Das ist aber etwas anderes als Freundschaft. Ich hatte seit der Kindergartenzeit einen wirklichen guten Freund in Sundern, Berthold hieß er. Wir hockten nicht täglich zusammen, aber wenn etwas Wichtiges passierte, waren wir füreinander da. Für mich als Einzelkind war er wie ein Bruder. Berthold ist leider bereits vor 50 Jahren tödlich verunglückt, seitdem habe ich nie wieder die Kurve zu einer solch intensiven Freundschaft bekommen.

Ihren Stempel des „Alleiner“ haben Sie seit einem gemeinsamen Interview mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder.

Das stimmt. Der Journalist fragte uns, ob wir es gut miteinander können. Da schaute mich Schröder an und sagte: „So Typen wie den Münte hätte ich gerne als Freund.“ Dann wurde ich gefragt, ob ich Schröder als meinen Freund sehe. Und ich antwortete: „So leicht ist das nicht. Ich bin kein Kumpel.“ Den Satz hätte ich mir sparen können. Aber: Wir hatten ein normales Arbeits- und Vertrauensverhältnis, aber eine echte Freundschaft ist noch eine Nummer größer. In der Hinsicht war ich immer zurückhaltend. Heute habe ich vier, fünf Menschen, mit denen ich immer mal telefoniere oder mich treffe.

Haben Sie noch Kontakt zu Gerhard Schröder?

Nein, das Tischtuch ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 zerschnitten. Dass er sich nicht von diesem Verbrechen des Herrn Putin distanziert hat, nehme ich ihm übel.

Auf Anraten meiner Ärzte trete ich kürzer. 2021 hatte ich noch 300 Termine, jetzt mache ich ein oder zwei in der Woche.
Franz Müntefering - Früherer SPD-Vorsitzender

Sie galten in Ihrer Partei als Strippenzieher. Was würden Sie den Strategen der Ampel-Koalition raten, deren Regierungsarbeit nach außen von Streit geprägt ist?

Die Koalition ist da, alle Beteiligten müssen bis zur nächsten Bundestagswahl die bestmögliche Politik für unser Land machen. Da darf keiner die beleidigte Leberwurst spielen, wenn er mal angeraunzt wird. Der Fehler war, dass jeder Wunsch in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen wurde. Es gibt Streit, wenn zwangsläufig nicht alles umgesetzt werden kann. Es ist eine Illusion, dass man zu Beginn eines Regierungsbündnisses für vier Jahre festlegen kann, was man macht und was nicht.

Hält die Koalition bis zur nächsten Bundestagswahl?

Das will ich schwer hoffen. Die demokratischen Parteien – und dazu zähle ich neben SPD, Grüne und FDP auch die CDU/CSU und die Linke – haben die Pflicht, den aufkommenden nationalen Radikalismus auszubremsen. Die Fünf müssen bei der nächsten Bundestagswahl untereinander koalitionsfähig sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese zwanziger Jahre so entarten, wie die im letzten Jahrhundert. Die endeten 1933 in einer Katastrophe.

Halten Sie CDU-Chef Friedrich Merz, Sauerländer wie Sie, für kanzlerfähig?

Ach, wer einer solch großen Partei vorsteht und dann das Vertrauen der Wähler gewinnt, der kann auch Kanzler. Die Frage, wie gut er es macht, ist eine andere. Denken Sie an den Beginn von Frau Merkels Kanzlerschaft: Da haben sich manche die Haare gerauft, die Skepsis ist schnell verflogen.

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Sie schreiben gerne und haben in 84 Lebensjahren viel erlebt. Werden Sie noch eine Autobiografie verfassen?

Ganz sicher nicht. Wenn ich aber die Gelegenheit habe, mich mit dem einen oder anderen politischen oder gesellschaftlichen Thema zu befassen, bin ich gerne dabei.

Warum haben Sie einen Gedichtband veröffentlicht?

Der Dietz-Verlag hat mich gefragt, ob ich nach zwei Werken über das Älterwerden etwas Neues veröffentlichen möchte. Ich lege aber Wert darauf, dass es keine Gedichte sind. Ich bin kein Poet. Es sind Reime und Geschichten. Das Reimen macht mir Spaß. Ich habe die Angewohnheit, im Alltag Gedanken auf Zettel zu schreiben. Sie waren das Gerüst für dieses Buch.

Als Politiker galten Sie als Mann der kurzen Sätze. Beste Voraussetzungen für Reime.

Das stimmt. Wissen Sie denn, wie es dazu kam? In der Ausbildung zum Industriekaufmann lernt man, mit der Zeit sparsam umzugehen. Dann kam ich in eine Sitzung der Bundestagsfraktion und ein Abgeordneter sprach vier Minuten zu einem Thema, dann der nächste, und noch einer. Alle redeten dasselbe. Eher aus Jux habe ich mit kurzen Sätzen angefangen. Die Wirkung von drei Sätzen war mindestens so groß wie bei denen, die zuvor lange gesprochen hatten.

Sie sind im katholischen Sauerland aufgewachsen. In Ihrem Buch hadern Sie mit Ihrem Glauben, warum?

Als es mir vor einem halben Jahr so schlecht ging, habe ich mich an das katholische Glaubensbekenntnis erinnert und mich gefragt: Wenn ich an viele Inhalte nicht mehr glaube, ist es dann ehrlich, in der Kirche zu bleiben? Mich hat der Eindruck belastet, ich könnte sterben und hier einen falschen Eindruck hinterlassen.

Sie sind jetzt 84. Was haben Sie noch vor?

Nichts Großes mehr. Ich will dicht an den Menschen bleiben. Auf Anraten meiner Ärzte trete ich kürzer. 2021 hatte ich noch 300 Termine, jetzt mache ich ein oder zwei in der Woche. Durch die Herz-OP wurde mir Nachspielzeit geschenkt.