Hagen. Der frühere SPD-Chef Franz Müntefering hat in der Corona-Krise vor Nachlässigkeit gewarnt. Rückschläge könnten sich verheerend auswirken.

Der frühere SPD-Chef und Vizekanzler Franz Müntefering (80) ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO).


Herr Müntefering, die wichtigste Frage in diesen Tagen vorab: Wie geht es Ihnen?

Franz Müntefering: Gesundheitlich geht es mir gut. Ich blase keine Trübsal, habe genug zu tun – auch wenn sich mein Alltag schon sehr verändert hat. Ich bin sonst für die BAGSO viel unterwegs, alle Termine sind in der Corona-Krise abgesagt. Aber es hat den Vorteil, dass ich jetzt ausschlafen kann.

Vor einem Monat haben Sie an die Bevölkerung appelliert, gefährdete Gruppen vor Corona-Infektionen zu schützen. Sind Sie auf offene Ohren gestoßen?

Im Wesentlichen ja. Es ist eine große Bereitschaft bei den Bürgern, konstruktiv und rational mitzuwirken. In allen Altersgruppen. Die Menschen haben verstanden, dass es darum geht, sich und andere zu schützen und die Zahl der Ansteckungen möglichst niedrig zu halten.

Wie beurteilen Sie die Beschlüsse der Kanzlerin und der Regierungschefs der Länder zu Lockerungen im öffentlichen Leben?

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Ich begrüße die Beschlüsse. Es geht darum, zwei wichtige Grundwerte – das Recht auf Leben und Unversehrtheit und den Wert der Freizügigkeit – in Einklang zu bringen. Wir müssen diejenigen schützen, die besonders hilfsbedürftig und gefährdet sind. Das ist im Übrigen nicht auf Altersgruppen beschränkt. Gleichzeitig gehören soziale Kontakte zum Gesundleben der Menschen dazu und müssen gefördert werden. Ich appelliere daher an die Politik: Sorgen Sie dafür, dass diejenigen, die nicht mobil sind, Besuch empfangen dürfen. Es darf nicht zur vollständigen Isolation kommen. Menschen dürfen nicht von der Teilnahme am sozialen Leben ausgeschlossen sein.

Sie wehren sich dagegen, ältere Menschen pauschal als Risikogruppe einzustufen. Warum?

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Ich habe ein Problem mit dem Begriff „ältere Menschen“. Er geht an der Wirklichkeit vorbei. Wir sprechen von einer großen Bevölkerungsgruppe mit sehr unterschiedlichen individuellen Ausprägungen. Die Verletzlichen in der Corona-Krise kommen aus allen Altersschichten: Es sind Menschen mit Vorerkrankungen, Heimbewohner, Pflegebedürftige in ihren Wohnungen, Menschen mit Behinderungen, Arbeitnehmer, die an der Corona-Front arbeiten und mit einer hohen Ansteckungsgefahr leben müssen. Wir dürfen aber den Blick nicht nur auf die Verletzlichen richten. Auch Familien mit Kindern sind in diesen Tagen am Anschlag. Und nicht zu vergessen: Zu unserer Wohlstandssicherung müssen sich die ökonomischen Bedingungen schnell wieder verbessern.

Dennoch: Wie wollen Sie besonders gefährdeten Bewohnern von Pflege- und Seniorenheimen soziale Kontakte ermöglichen und sie gleichzeitig schützen?

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Indem sich – wie Bund und Länder vereinbart haben – jede Einrichtung externen Sachverstand holt – Fachärzte für Krankenhaushygiene zum Beispiel – und ein spezifisches Konzept entwickelt. Es geht darum, Wege für Begegnung und Austausch zu finden und dabei das Abstandsgebot einzuhalten. Aber: Einsamkeit ist nicht nur ein Phänomen in Heimen. Denken Sie an die vielen Ein-Personen-Haushalte. Ich freue mich, dass so viele Nachbarschafts-Initiativen entstanden sind. Wir sind eine Gesellschaft, die sich in einem größeren Maß solidarisiert als vermutet.

Sind moderne Kommunikationsmittel wie Skype und soziale Netzwerke die große Hilfe in der Corona-Krise?

Es ist wichtig, wenn zum Beispiel Einrichtungen Kontakte mit Familien über Telefon oder Skype ermöglichen. Aber: Es ersetzt nicht den Kontakt von Angesicht zu Angesicht. Menschen brauchen Menschen.

Das bedeutet für Sie aber nicht, Schutzmaßnahmen im großen Stil außer Kraft zu setzen?

Auf keinen Fall. Wir dürfen nicht nachlässig werden. Rückschläge im Kampf gegen die Pandemie könnten sich verheerend auswirken. Ich finde es gut, dass Schutzmasken beim Einkauf und in Bussen und Bahnen getragen werden müssen – weil sie eben schützen. Lockerungen im öffentlichen Leben können nur bedeuten: kleine Schritte nacheinander. Es ist nicht die Zeit für Experimente. Für mich war es schwer nachzuvollziehen, warum Möbelhäuser in NRW plötzlich wieder öffnen durften.

Zeigt sich an den unterschiedlichen Lockerungen in Bundesländern, dass der Föderalismus in Corona-Zeiten kontraproduktiv ist?

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Nein, der Föderalismus ist etwas Gutes. Die Lockerungen wirken zwar bisweilen wie ein buntes Puzzle, aber das, was Bund und Länder vereinbart haben, geht grundsätzlich in die richtige Richtung: Man muss Lücken finden, um Isolation zu verhindern. Noch ein paar Sätze zum Föderalismus: Bundesland ist nicht gleich Bundesland. Man muss immer berücksichtigen, dass unterschiedliche Bedingungen herrschen. Und man gewinnt die Zustimmung der Menschen nur, wenn sie das Gefühl haben, nicht nur Empfänger von Kommandos von oben zu sein, sondern mitdiskutieren können. Die Nähe zu den Menschen ist in den Ländern, in den Kommunen.

Kanzlerin Merkel hat dennoch die „Öffnungsdiskussionsorgien“ angeprangert. Können Sie ihren Unmut nachvollziehen?

Vorab: Frau Merkel leistet in der Corona-Krise sehr gute Arbeit. Sie agiert – das gilt im übrigen auch für die Bundesregierung und die Ländervertreter – sehr diszipliniert, couragiert und bleibt ruhig. Ein großer Vorteil gegenüber manch anderen Staatsführern auf der Welt. Dass ihr dennoch mal der Kragen platzt, zeigt doch nur: Sie ist auch nur ein Mensch.

Ein Wort noch zu Ihrer Partei: Die SPD legt im Gegensatz zur CDU in der Corona-Krise in Umfragen nicht zu. Bereitet Ihnen das Kopfzerbrechen?

Ich bin da ganz gelassen. Das bleibt bis zur Bundestagswahl nicht so. Es ist ein typischer Mechanismus in einer Krise, dass sich die Menschen zunächst auf die Spitze fokussieren. Und Frau Merkel, wie gesagt, macht ja die Sache gut. Es geht in dieser Situation nicht um Parteien, sondern um das Land und seine Menschen.

Was macht Sie optimistisch, dass wir eines Tages sagen können, dass die Pandemie einigermaßen glimpflich für uns ausgegangen ist?

Dass die Menschen hierzulande guten Willens sind. Unsere Demokratie, unsere Solidarität und unsere Medien sind die Grundlage, um in der Krise bestehen zu können. Aber es wird ein langer Weg. Die Pandemie ist nicht zu Ende, wenn dies die Politik beschließt, sondern erst, wenn wir sie beherrschen. Noch ein Wort zu den Medien: Ich habe großen Respekt vor ihnen in der Corona-Krise. Sie machen richtig gute Arbeit, informieren die Menschen sehr verantwortungsbewusst und wissend. So können sich die Bürger der Corona-Problematik rational nähern.

Ihr Alltag hat sich verändert. Wie sieht er jetzt aus?

Es gibt nun Tage, die ich komplett in meinem Haus verbringe. Ich versuche mich vernünftig zu ernähren, lese viel und komme endlich dazu, die Unterlagen meines Lebens zu sichten. Ich hatte mir schon nach meinem Abschied aus dem Bundestag vorgenommen, Schriftstücke aus vielen Jahren Politik zu ordnen.

Was ist mit Bewegung, die Sie gerne propagieren?

Natürlich. Ich mache Spaziergänge – zu meinem eigenen Schutz an Stellen, an denen wenig Menschen sind. Im Haus bin ich viel auf dem Laufband. Ich sage immer: Die Bewegung der Beine ernährt Gehirn und Lunge.

Hilft es Ihnen in diesen Tagen, dass Sie ein „Alleiner“ sind, wie Sie es einmal in einem Interview gesagt haben?

Ach, das weiß ich nicht. Das war doch nur ein lockerer Spruch von mir. Aber seien Sie beruhigt: Ich kann unter den derzeitigen Bedingungen ganz gut leben.

Franz Müntefering wurde 1940 in Neheim geboren. Er war fast 40 Jahre in der Landes- und Bundespolitik aktiv. Erst als Arbeits- und Gesundheitsminister in NRW, später als Bundesverkehrsminister, Arbeitsminister, SPD-Chef und Vizekanzler. 2013 verabschiedete er sich endgültig aus der Politik. Müntefering engagiert sich ehrenamtlich unter anderem als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) und Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland.