Franz Müntefering im Interview über Zeitreichtum, Lebensqualität, Gymnastik im Bad und die Zukunft seiner Partei, der SPD.

Sie wollten nie ein Buch schreiben, nun sind es gleich mehrere in einem geworden: Es geht ums Altern, um die Geschichte der Bundesrepublik, um persönliche Erinnerungen, um Leseerfahrungen und um die SPD. Was war Ihnen das Wichtigste?

Franz Müntefering: Ich wollte aufzeigen, wie meine Generation älter geworden ist. Dazu habe ich persönliche Beispiele angeführt, um plastisch zu machen, wie die Gesellschaft und Deutschland sich entwickelt haben. Der Hinweis auf Bücher war mir wichtig, weil Autodidakten in meiner Generationen noch viel häufiger waren als heute.

Als Sie in den 70ern ihre politische Karriere in Bonn starteten, waren Nicht-Akademiker im Bundestag doch bestimmt auch schon selten – oder?

Das stimmt. Ich hatte damals schon Respekt vor Professoren mit ganz anderer Erfahrung und ganz anderem Wissen. Aber ich habe auch Menschen mit vielen Titeln getroffen und festgestellt: Das weiß ich besser. Ich kannte das Leben. Ich hatte viele Jahre Erfahrung als Industriekaufmann. Das hat mir geholfen. Und ich rate auch heute jungen Leuten, die duale Berufsausbildung nicht ganz aus dem Blick zu verlieren.

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Im Buch geht es aber eher ums Altern. Wie bekommen wir das gut hin?

Da gibt es drei Ebenen: Der Staat muss Gerechtigkeit und soziale Sicherheit gewährleisten. Das ist nicht ganz einfach. Über die besten Wege diskutieren wir seit 20 Jahren. Auf gesellschaftlicher Ebene sind die Kommunen gefragt: Altenpflege muss Pflichtaufgabe werden. Dazu brauchen die Kommunen aber auch die Mittel.

Und was kann jeder Einzelne tun?

Begreifen, dass das Leben mit der Rente nicht zu Ende ist. Es geht nicht darum, den Tank noch leer zu fahren, sondern um neue Lebensqualität. Dazu muss man soziale Kontakte pflegen und vertiefen. Die Familien sind heute oft nicht mehr so nah beieinander. Und Bewegung ist ganz wichtig.

Wie halten Sie es denn selbst damit?

Ich mache jeden Morgen 15 bis 20 Minuten Gymnastik. Im Bad. Da muss ich sowieso hin und da sieht mich keiner. Zwei, drei oder vier Mal die Woche gehe ich spazieren, zügig, so fünf bis sechs Kilometer weit. Oder notfalls auch mal eine halbe Stunde aufs Laufband. Bewegung hält auch den Kopf in Gang. Es geht nicht um Olympiareife. Und es ist gut, mit anderen Menschen etwas zusammen zu machen, Begegnungen zu haben.

Ältere Menschen haben meistens viel Zeit.

Wir sind die Zeitreichen. Das ist unsere größte Währung. Von der Zeit können wir etwas abgeben, uns für Menschen einsetzen, die Hilfe brauchen. Bisher tun das mehr Frauen als Männer.

Viele Männer wollen sich auch nicht gern helfen lassen.

Niemand lebt für sich allein. Wenn bei der Geburt keiner dabei gewesen wäre, gäbe es uns nicht. Wir sind immer auf andere angewiesen. Und zu sagen „Ich schieße mir lieber eine Kugel in den Kopf, als mir den Hintern abwischen zu lassen“ ist Unsinn. Aber es gibt auch viele engagierte Männer.

Und wie hilft man der SPD?

Ich will da nicht von außen Ratschläge geben. Alle Parteien haben es heute schwerer als früher. Für die Sozialdemokraten gilt es, sozialpolitisch aufmerksam zu sein, aber sich nicht auf Nothilfe zu beschränken, sondern auch ökonomisch und ökologisch nach vorn zu schauen. Wir müssen breit aufgestellt sein.

Soziales, Ökonomie und Ökologie vereinen – versprechen das nicht alle?

Wir müssen eben die überzeugenderen Vorschläge machen. Es gibt politisch immer zwei Fragestellungen: Was muss passieren, damit es gut weiter geht? Und: Was muss ich versprechen, um gewählt zu werden? Da müssen wir ehrlich sein, Aufklärung hilft.

Können die Regierungen die Probleme denn überhaupt noch lösen? Als sie vor mehr als zehn Jahren gegen die Heuschrecken gewettert haben, wirkten Sie dabei zugleich recht hilflos.

Man kann Gesetze nur bis zur nationalen Grenze machen. Darüber hinaus gibt es eher lockere Absprachen. Das Geld ist weltweit unterwegs, aber eine Weltregierung schwer vorstellbar. Mit 28 Staaten in der EU ist es schon schwer genug, wie man an der Digitalsteuer oder der Finanztransaktionssteuer sieht. Trotzdem bleibe ich zuversichtlich. Aber ich sehe großen Handlungsbedarf. Und was die Heuschrecken angeht: Kürzlich habe ich sie an einer Schule gebraten vorgesetzt bekommen. Und gegessen.