Brilon/Berlin. Peter Becker aus Brilon ist Schützenforscher: Er sieht bei Ballerman-Partys oder Oktoberfesten auch Risiken für die Schützenvereine.

Der Schützenverein zu Rheda von 1833 in Ostwestfalen versprach im vergangenen Juni „das Ballermann-Event des Jahres“. Einschlägig bekannte Stimmungssänger wie Peter Wackel und Stefan Stürmer sollten als „Highlight“ des ersten Schützenfest-Abends Lieder wie „Scheiß drauf – Malle ist nur einmal im Jahr“ live auf der Bühne darbieten. Der auswärtige Veranstalter der „Ballermann-Party“ jubelte hinterher über die Begeisterung bei den Schützen. Und den finanziellen Erfolg: „Die Vereinskassen haben geklingelt.“ Für den Briloner Schützenforscher Peter Becker hat auch fernab von Ostwestfalen die „Ballermannisierung des Schützenwesens“ längst begonnen.

Der Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes in Münster begleitet seit 2016 das Forschungsprojekt Tradition im Wandel an der Universität Paderborn und hat jetzt Ergebnisse vor dem Parlamentskreis Schützenwesen des Deutschen Bundestags vorgestellt. Bei seinem Vortrag in Berlin präsentierte er auch Plakate von Kreisschützenfest-Partys, auf denen für die Auftritte von Gesangs-Sternchen wie Mia Julia und Isi Glück geworben wurde.

Schützenvereine veranstalten auch Oktoberfeste

Dazu das Cover einer CD. Titel: „Ballermann-Schützenfest-Party-Hits“. Schützen und Hofstaat (als Karikaturen) mit Gewehr und Bier in der Hand lächeln selig, und auch der abgebildete Schützenvogel kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Peter Becker (51) kommen dabei auch die zunehmend von Schützenvereinen organisierten Oktoberfeste in den Sinn: „Wenn man fremde Bräuche adaptiert und wenn man sich aus wirtschaftlichen Gründen Dingen zuwendet, die nichts mit dem Schützenwesen zu tun haben, birgt das die Gefahr, dass man als Verein beliebig wird.“

Mehr zum Thema

Mehr noch: „Ich sehe bei Veranstaltungen wie Ballermann-Partys und Oktoberfesten das Risiko“, so Becker weiter, „dass die Vereine ihre Wurzeln aus den Augen verlieren.“ Schützenvereine müssten sich wandeln und anpassen, „das ist klar, aber sie dürfen Traditionen nicht aufgeben“.

Keine Änderungen geplant

Nachfrage an der Basis: Andreas Roll ist Major des St. Sebastianus Schützenvereins Olpe. Er weiß, dass schon manche Vereine in der Region den Schützenfest-Freitag zum „Discoabend“ gemacht haben. „In Olpe halten wir an dem traditionellen Festablauf fest“, betont er, man komme damit dem ausdrücklichen Wunsch der Mitglieder nach. Zudem habe man „keine wirtschaftliche Notwendigkeit“, daran etwas zu ändern. Wohl wissend, dass „wir als Verein an einem Cocktail mehr verdienen würden als an einem Glas Bier“.

Schützenfestforscher Peter Becker (links) in Berlin neben dem Sprecher des Parlamentskreises Schützenwesen, Florian Müller.
Schützenfestforscher Peter Becker (links) in Berlin neben dem Sprecher des Parlamentskreises Schützenwesen, Florian Müller. © Privat | Privat

Das Schützenwesen wurde 2015 in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. 2022 wurde der Parlamentskreis Schützenwesen des Deutschen Bundestages gegründet. Mittlerweile gehören 56 Parlamentarier von CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP dem Gremium an. Dessen Sprecher Florian Müller, Abgeordneter der CDU für das Südsauerland, wird nicht müde, auf die Bedeutung der Schützenvereine für das gesellschaftliche Leben hinzuweisen, „in Zeiten, in denen sich vieles verändert und sich wachsende Individualisierung breitmacht“. Die Politik, so sagt er, müsse dafür sorgen, dass ehrenamtliches Engagement nicht durch bürokratische Auflagen behindert werde.

Ich sehe bei Veranstaltungen wie Ballermann-Partys und Oktoberfesten das Risiko, dass die Vereine ihre Wurzeln aus den Augen verlieren.
Peter Becker - Schützenforscher

Ein Punkt, den auch das Forschungsprojekt Tradition im Wandel anspricht. Nach der Pandemie seien Schützenfeste wieder gut angenommen worden, so Peter Becker, gleichzeitig wachse die Verantwortung für die Funktionäre: „Veranstaltungen sind immer aufwändiger und kostenintensiver zu organisieren.“ Das hänge auch mit den öffentlichen Auflagen für Veranstaltungen zusammen: „Wenn Sie heute geschäftsführender Vorstand sind, stehen Sie mit einem Bein in der Haftung.“

Becker nennt in diesem Zusammenhang gerne das Beispiel einer Vogelstange: „Früher“, so sagt er, „ist man in den Stadtwald gegangen, der Oberförster hat einem eine Fichte zugewiesen, die anschließend geschlagen, geschält und in den Vereinsfarben angestrichen wurde. Nach zehn Jahren war sie faul – dann wurde eine neue geholt.“ Heute koste eine Vogelstange zwischen 20.000 und 25.000 Euro. Sie müsse regelmäßig gewartet werden und werde regelmäßig kontrolliert – „was jedes Mal mehrere 100 Euro kostet“.

Zeiten haben sich geändert

Das Schützenwesen war und ist immer Wandlungsprozessen unterzogen, betont Becker. Er nennt ein weiteres Beispiel: Viele Vereine seien dazu übergegangen, ihr Schützenfest von Freitag bis Sonntag durchzuführen. Auch, weil sie keine Musikkapellen mehr bekämen: „Die Musiker sind nicht mehr bereit, sich für fünf Schützenfeste in der Saison jeweils zwei Urlaubstage zu nehmen. Sie sagen sich: ,Das sind zwei Wochen. Dafür können wir auch in Urlaub fahren‘.“

Schützenvereine, so bilanziert der Experte aus dem Sauerland, sind längst keine reinen Feiervereine mehr: „Sie sind sozial engagiert und wirken integrierend, weil sie viele Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten zusammenbringen.“ Daher rät Peter Becker, dass sich die Vereine „in einer heterogener werdenden Gesellschaft noch breiter aufstellen, sich noch weiter öffnen müssten, ohne ihre Traditionen zu vergessen.

Gerade Traditionsvereine, die „die große Mitte der Gesellschaft“ repräsentierten, „können in Zeiten lautstarker Proteste der Unzufriedenen zur Stabilisierung und Beruhigung der Lage beitragen“. Vor diesem Hintergrund, so Becker weiter, sei die übereinstimmende Auffassung des Parlamentskreises Schützenwesen richtig und wichtig, „dass die Vereine und das gesellschaftliche Miteinander gestärkt werden“.