Essen. Bildungs-Misere: Schüler sind in Mathe schlechter denn je. Was Lehrkräfte in NRW von YouTubern wie Daniel Jung lernen können.
Deutschland schneidet in der aktuellen Pisa-Studie schlechter ab denn je. Die Ergebnisse sind für viele so enttäuschend wie absehbar: Ob IQB-Bildungstrend, IGLU-Studie oder Bildungsminitor des Instituts der deutschen Wirtschaft – sie alle zeigen auf, dass Deutschland tief in der Bildungsmisere steckt. Und dass es immer schlechter statt besser wird.
Besonders erschreckend sind die Ergebnisse im Fach Mathematik. Ein Drittel der Schülerinnen und Schüler scheitert bereits an einfachen Matheaufgaben. Eine Chance sehen Lehrkräfte, Bildungsexperten, Schüler und Eltern allerdings trotzdem im neuen Pisa-Schock: Für sie sind die verheerenden Ergebnisse „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt”, ein letztes Signal, dass sich etwas ändern muss. Vorschläge zur Besserung gibt es viele, vor allem für den Matheunterricht. Ein Überblick.
Schüler aus NRW: „Matheunterricht ist zu komplex“
„Der Matheunterricht an den Schulen ist zu komplex, wenig greifbar und hat keinen Bezug zur Realität”, sagt Thaddäus Hildemann von der Landeschülervertretung. In erster Linie sei es also wichtig, den Bezug zur Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen herzustellen und den Schülerinnen und Schülern genau aufzuzeigen, wofür sie was in ihrem Alltag brauchen.
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Hildemann schlägt vor, anstelle des Matheunterrichts lieber in Projekten zu arbeiten, in denen man durch Mathematik zu Lösungen kommt. „Dann wird nicht gerechnet, weil es im Mathebuch verlangt wird, sondern weil man so gemeinsam in einem Projekt weiterkommt”, so der 18-jährige Gesamtschüler.
Dass guter Mathe-Unterricht nicht ohne Gruppenarbeit funktioniert, sagt auch Michael Kleine. Er ist Professor für Mathedidaktik an der Universität Bielefeld – und „überhaupt nicht“ von den schlechten Ergebnissen deutscher Schülerinnen und Schüler überrascht. Was er im Hörsaal lehrt, können die Lehramts-Studierenden später viel zu selten in den Schulen umsetzen. Etwa, weil die Klassen zu groß sind, die Zeit zu knapp ist oder die Lehrmittel fehlen.
Trotzdem versucht er an der Uni den idealen Mathe-Unterricht zu gestalten, zumindest in der Theorie. „Praktische Ansätze sind im Fach Mathe sehr wichtig“, so Kleine. Er gibt daher beispielsweise ein Seminar dazu, wie Lehrkräfte Origami im Matheunterricht einsetzen können. „Es kommt auf Abwechslung an. Es braucht eine gute Mischung aus visuellen Anteilen, handlungsorientierten Aufgaben, aber natürlich auch Theorie. Nur so bieten wir möglichst vielen Schülern die Chance, Mathe zu verstehen.”
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Mathe verstehen, das fällt vielen Kindern und Jugendlichen schwer. Das liegt laut Kleine auch daran, dass Mathe hierarchischer strukturiert ist als andere Fächer: Wer einmal den Anschluss verloren hat und wem wichtige Grundlagen fehlen, wird die ganze Schullaufbahn Probleme haben.
Kölner YouTuber Daniel Jung als Vorbild für Lehrkräfte
In der Ausbildung seiner Studierenden legt Kleine, der nebenbei noch zeitweise an Schulen unterrichtet und an der Erstellung von Mathebüchern mitarbeitet, daher viel Wert auf Didaktik. „Die Studierenden brauchen natürlich einen theoretischen Hintergrund. Aber wichtiger ist es, dass sie lernen, wie sie den Schülern Wissen vermitteln können.”
Wie das geht, macht Daniel Jung vor. Mit seinen Erklärvideos rund ums Thema Mathe wurde er zu einem der erfolgreichsten Bildungs-YouTuber Deutschlands. Immer mehr Schüler und Eltern greifen bei den Hausaufgaben auf Mathe-YouTuber wie ihn oder „Lehrer Schmidt” zurück.
„Während wir früher Bücher gefragt haben, fragt man heute das Internet und stößt dabei auf uns”, sagt Jung. Monatlich sehen mittlerweile drei Millionen Menschen die Videos des Kölners – Schülerinnen und Schüler, Studierende, Eltern.
„Bei dem standardisierten Unterricht in den Schulen kommt nicht jeder direkt mit. Zudem geht es oft nur ums Auswendiglernen”, sagt Jung. Videos könnten dabei helfen, Wissenslücken zu schließen und Matheformeln gleichzeitig verständlich zu machen. Zwar seien Videos kein Ersatz für eine Lehrkraft, aber sie schafften mehr Freiräume beim Mathelernen.
„Die jungen Menschen können die Videos als ein Werkzeug nutzen. Sie könne sie jederzeit abrufen, anhalten und zurückspulen, wenn sie etwas nicht verstanden haben”, erklärt Jung. Auch die Angst vor „blöden Fragen” bleibe den Schülern erspart. Wer nicht weiß, was eine Potenz ist, könne das ganz einfach, ähnlich wie bei einem Buch, im Video nachschauen. Doch anders als bei Büchern vermittelten Videos Schülern das Gefühl, aus nächster Nähe von einem Menschen begleitet zu werden.
YouTuber Daniel Jung fordert: „Schulen digital vernünftig ausstatten“
Lehrkräften rät Jung, Videos in ihren Unterricht zu integrieren. So könnten Schüler selbst Lernvideos produzieren und ihren Mitschülern darin zum Beispiel den „Satz des Pythagoras” erklären. Auch könnten sich Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam mit ihren Schützlingen Erklärvideos anschauen und anschließend darüber diskutieren. „Dafür ist es wichtig, die Schulen digital vernünftig auszustatten und den Lehrkräften Freiheiten beim Unterricht zu geben”, sagt Jung.
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Diese Freiheit wünscht sich auch Corinna von Erdmansdorff vom Verband Bildung und Erziehung in NRW. Die Mathelehrerin in Essen nimmt sich ein Beispiel an YouTubern wie Daniel Jung. Für von Erdmansdorff gehören digitale Lern-Apps, interaktive Lern-Anwendungen oder auch KI „selbstverständlich” zum Unterricht dazu.
Digitale Lern-Anwendungen machen Unterricht in NRW besser
In ihrer Klasse müssen Schüler zum Beispiel nicht mehr eine ganze Unterrichtsstunde damit verbringen, Graphen zu zeichnen: „Im Geometrie-Unterricht ist damals so viel Zeit verschwendet worden, ohne dass die Schüler den Graphen interpretieren, geschweige denn verstehen konnten, warum sie das tun sollten. Heute haben wir interaktive Online-Programme wie GeoGebra, die da sehr viel effektiver sind.”
Der perfekte Mathe-Unterricht müsste ihrer Meinung nach handlungsorientierter sein und noch mehr digitale Tools einbeziehen. Denn beides ermögliche es Schülern, in Gruppen experimentell einen Zugang zum komplexen Fach zu finden. „Die beste Mathe-Stunde ist die, in der ich als Lehrkraft wenig Redeanteil habe”, hält von Erdmansdorff fest. Dabei geraten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen aber immer wieder an ihre Grenzen. Ein Problem sei, dass die Klassen zu groß sind. Das andere, dass es an Mitteln für die digitale Ausstattung fehlt.
Für Schüler Thaddäus Hildemann ist klar: „Wir brauchen im Matheunterricht mehr Unterstützung, Zuwendung und Zeit. Denn nur wenn wir uns richtig mit der Materie befassen, wird sie für uns greifbar.“ Er gibt die Hoffnung nicht auf, dass Mathe doch noch das Lieblingsfach vieler Schülerinnen und Schüler werden kann.
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