Essen. Eine Schule im Ruhrgebiet will Noten und Klassen abschaffen, damit die Schüler bessere Leistungen erzielen. Doch kann das wirklich funktionieren?
Kein Unterricht, keine Klassen, keine Noten: Die Erich-Fried-Gesamtschule in Herne will ihr Lernkonzept revolutionieren. Doch der Schritt, den die Schule in Zukunft gehen möchte, ist umstritten. Während Kritikerinnen und Kritiker in den Sozialen Medien vor einer „Verblödung“ und „Verweichlichung“ der Schülerinnen und Schüler warnen, erhofft sich die Gesamtschule eine deutliche Verbesserung der Leistungen.
„Anfangs bringen die Kinder noch eine unheimliche Freude am Lernen mit, aber die nimmt im Laufe der Schulzeit ab. Wir haben uns gefragt: Warum ist das so? Und sind zu der Antwort gekommen, dass es auch an der Art und Weise liegen muss, wie wir Schule gestalten“, sagt der Didaktische Leiter Anders Krosch. Er entwickelt das neue Konzept maßgeblich mit.
Herner Schule schafft Noten ab: „Wir möchten Schule kindgerecht machen“
Kurz zusammengefasst lässt sich seine Idee, die noch vom Ministerium und der Stadt Herne abgesegnet werden muss, so beschreiben: Schüler sollen selbstständiger lernen. Daher soll es keinen festen Stundenplan mehr geben, der klassische Frontalunterricht soll ebenfalls entfallen. Stattdessen werden Lehrkräfte kurze „Input“-Runden anbieten, um neue Inhalte zu vermitteln.
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Welche konkreten Inhalte jedes Kind erarbeitet, werde individuell entschieden. Die Schülerinnen und Schüler sollen in Zukunft unterschiedliche Aufgabenpakete abarbeiten. Wird ein Paket erfolgreich abgeschlossen, wird das nächste freigeschaltet. „So kann jedes Kind in jedem Fach genau auf dem Leistungsniveau weiterlernen, auf dem es sich befindet“, so Krosch. „Wir möchten die Schule kindgerecht machen und nicht Kinder an die Schule anpassen“, sagt er. Doch kann das wirklich funktionieren?
Von der Brennpunkt- zur Vorzeigeschule im Ruhrgebiet
Diese Frage lässt sich am besten beantworten, wenn man einen Blick auf Schulen wirft, die den Weg bereits gegangen sind. Eine von ihnen ist die Grundschule am Dichterviertel in Mülheim.
Als Nicola Küppers dort vor zehn Jahren die Leitung übernahm, plante die Stadt bereits den Verkauf des Schulgrundstücks. 113 Kinder waren 2013 an der Schule, für das kommende Schuljahr gab es lediglich 13 neue Anmeldungen. „Man ging nicht mehr zu dieser Schule“, sagt Küppers im Rückblick.
Ihre Kolleginnen und Kollegen waren „völlig überarbeitet“, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler unterdurchschnittlich. Heute, zehn Jahre später, haben sich die Anmeldezahlen verfünffacht, die Schule ist zu einer Modellschule für Hochbegabung und Inklusion geworden und vor wenigen Wochen mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden
„Wir haben den Traum gehabt, Schule weiterzudenken“, sagt Küppers. Anfangs waren vor allem die enormen Entwicklungsunterschiede der Kinder eine Herausforderung, erinnert sie sich: „Wir hatten Kinder im dritten Schuljahr, die noch Stoff aus dem ersten Schuljahr brauchten und umgekehrt Kinder aus der ersten Klasse, die schon viel weiter waren.“
Schulleiterin aus dem Ruhrgebiet: „Es geht so nicht mehr weiter“
Über mehrere Jahre lang erarbeiteten sie und ihr Kollegium in Absprache mit dem Schulministerium ein Konzept, das sie immer wieder anpassten. Heute wird zwar noch in Klassen unterrichtet, allerdings sind diese Jahrgangsübergreifend zusammengesetzt. Bis zur vierten Klasse werden keine Noten vergeben, um die Motivation der Schülerinnen und Schüler nicht zu mindern. Die vom Land vorgegebenen Lehrpläne sind die Grundlage für die Lernpläne.
Lehrkräfte haben viele unterschiedliche Aufgaben: Sie erstellen Wochenpläne sowohl für die Klassen als auch für jedes einzelne Kind, unterstützen beim Lösen der Aufgaben und halten Vorträge für Kleingruppen. „Die Kolleginnen und Kollegen leisten viel, das kann man nicht kleinreden“, sagt die Schulleiterin. Die Zufriedenheit innerhalb des Kollegiums sei dennoch hoch, was Küppers zum Beispiel an wenigen Wechseln und der generell guten Stimmung festmache. Sie ist daher davon überzeugt, dass es – auch in Zeiten von Lehrkräftemangel – unausweichlich sei, Schule neu zu denken.
Das bestätigte auch das große Interesse an ihrem Konzept, regelmäßig hospitieren Lehrkräfte anderer Schulen in Mülheim. „Es surrt im Bildungssystem. Jeder weiß: Es geht so nicht mehr weiter“, sagt Küppers. Doch auch wenn der Wunsch nach alternativen Unterrichtsformen scheinbar wächst, können Schulen nicht einfach so ihren Alltag umstellen, sondern müssen sich an die rechtlichen Vorgaben des Schulministeriums halten, was zum Beispiel Lehrpläne und zentrale Abschlussprüfungen betrifft.
So könne sichergestellt werden, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler nicht sinken und gewisse Bildungsstandards eingehalten werden. „Dadurch, dass die Konzepte zur Schulentwicklung mit der Schulaufsicht abgestimmt werden, ist sichergestellt, dass alle Vorgaben eingehalten werden“, heißt es dazu aus dem Schulministerium.
Dass in NRW zahlreiche Schulen Konzepte für einen modernen Unterricht umsetzen wollen, findet im Ministerium generell Anklang: „Das Schulministerium unterstützt und begrüßt diese Entwicklungen ausdrücklich und fördert die Schulen in der Wahrnehmung ihres Gestaltungsauftrags innerhalb der rechtlichen Vorgaben.“
„Schul-Konzepte aus dem vorherigen Jahrhundert“
Dafür begleite das Ministerium interessierte Schulen und berate sie. Wie viele Schulen in NRW diesen Schritt bereits gegangen sind und etwa auf Noten oder feste Klassen verzichten, darüber könne das Ministerium zurzeit keine Auskunft geben.
Dass innovative Ideen gefragt seien, betont auch Ayla Çelik, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW: „Wir können nicht mit alten Konzepten das Morgen gestalten“. Schulen stünden heutzutage mehr denn je vor der Herausforderung, die unterschiedlichen Startbedingungen der Schülerinnen und Schüler auszugleichen. „Die Bedarfe unserer Kinder heute müssen stärker Berücksichtigung finden. Sowohl Noten als auch die Rhythmisierung des Unterrichts in 45 Minuten sind Konzepte aus dem vorherigen Jahrhundert“, so Çelik.
Laborschule in Bielefeld testet neue Lehr- und Lernformen
Wie sich Lehre und Lernen verändern kann, das testet das Schulministerium auch selbst – zum Beispiel an der Laborschule in Bielefeld. Dort gibt es bereits seit knapp 50 Jahren keine Hausaufgaben, keine Klassenarbeiten und bis zur neunten Klasse auch keine Noten. Dem Vorwurf, die Schülerinnen und Schüler würden aufgrund des Konzepts „verblöden“, muss sich die Laborschule häufig stellen. „Aber 60 Prozent von ihnen gehen im Anschluss auf die gymnasiale Oberstufe“, betont Devantié.
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Anstatt Noten – die Devantié als subjektiv, demotivierend und schädigend für das Lehrer-Schüler-Verhältnis kritisiert – werden ausführliche Lernberichte erstellt. Der Schulleiter ist überzeugt, dass sein Modell Zukunft hat: „Die Bildungskrise ist längst da. Spätestens durch Corona ist deutlich geworden, dass unser Bildungssystem echt reformbedürftig ist.“
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