Gelsenkirchen. Landesregierung weitet NRW-Talentscouting flächendeckend aus. Gelsenkirchener Projekt wird zum größten Programm für mehr Bildungschancen.
Es gibt Tausende unerkannte Talente in den Schulen, die unentdeckt und unauffällig ihren Weg gehen. Doch wenn man sie direkt anspricht und fördert, eröffnen sich für viele junge Menschen Chancen und Wege, an die sie selbst nie gedacht haben. Seit Jahren leitet Marcus Kottmann das NRW-Zentrum für Talentförderung in Gelsenkirchen - und man spürt bei ihm immer noch die Begeisterung für die Arbeit mit den jungen Menschen. „Was wir machen, ist ganz einfach“, sagt Kottmann (54). „Wir fragen die Schüler nach ihren Träumen und Stärken.“ Und meistens wüssten die Jugendliche darauf zunächst gar keine Antwort.
Das NRW-Talentscouting ist eine Erfolgsgeschichte. Aus kleinen Anfängen mit einer Handvoll Schulen hat sich das Förderprogramm, das sich vor allem an Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen richtet, mittlerweile zum größten Programm für mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit in Deutschland entwickelt. Dass die Arbeit des Zentrums erfolgreich ist, wurde inzwischen wissenschaftlich untersucht und belegt.
Landesregierung gibt weitere Mittel
Darauf reagiert nun die Landesregierung: NRW-Wissenschaftsministerin Ina Brandes (CDU) verkündete am Montag in Düsseldorf eine weitere Ausweitung des NRW-Talentscoutings. Künftig sollen rund 30.000 junge Talente von rund 100 ausgebildeten Scouts gefördert, beraten und auf ihrem Bildungsweg begleitet werden. Zugleich soll die Zahl der Partnerhochschulen von bisher 17 auf 23 anwachsen und die Zahl der Kooperationsschulen von 400 auf landesweit rund 600. „Dann sind fast alle Schulen in dem Förderprogramm vertreten, die eine Unterstützung besonders benötigen“, freut sich Kottmann. Das Land hebe dafür ab 2024 die Finanzierung von bislang etwa 7,8 Millionen auf rund zehn Millionen Euro jährlich an.
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„Eine gute Ausbildung darf keine Frage des Wohnorts oder der Herkunft sein“, sagte Wissenschaftsministerin Ina Brandes. „Mit dem Talentscouting haben wir einen sehr erfolgreichen Weg eingeschlagen, Schülerinnen und Schüler bei den Entscheidungen, die nach der Schulzeit anstehen, zu beraten und zu begleiten“, so die Ministerin weiter.
Wie arbeiten Talentscouts? Sie sind an einer der Hochschulen angesiedelt und besuchen Schulen in ausgewählten Stadtvierteln. „Wir bieten offene Beratungen an und reden mit den Jugendlichen. Fragen nach ihren Zielen und besprechen berufliche Perspektiven.“ Die Scouts begleiten die Jugendlichen dann häufig jahrelang bis zur Berufsausbildung oder an eine Hochschule. Was Eltern nicht leisten können und wo Schulen überfordert sind, da beginnt die Arbeit der Scouts.
„Wir brauchen dich!“
Kottmann nennt ein Beispiel: Eine Schülerin, die rumänisch spricht, fünf Geschwister hat und Noten im mittleren Bereich hat – sie fällt in der Schule nicht auf, empfindet ihre Herkunft vielleicht zuweilen auch als Makel. „Wenn man ihr sagt: Hey, du sprichst Rumänisch, du kannst gut mit Menschen umgehen, du bist empathisch – wir brauchen dich! Dann sind sie oft erstaunt.“ Viele würden sagen: „Ich wusste gar nicht, dass ich Talente habe!“ Langsam wachse in der Folge das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, während die Scouts Möglichkeit aufzeigen, etwa für eine Ausbildung oder ein Studium im sozialen oder medizinischen Bereich.
Wie sehr die Scouts auf die persönlichen Neigungen und Fähigkeiten eingehen, zeigte auch die wissenschaftliche Untersuchung des Projekts. Danach wählen nach einer Beratung deutlich mehr Frauen einen Beruf oder ein Studium im mathematisch-technischen Bereich als im Durchschnitt. Zugleich gehen mehr Männer in den sozialen Bereich oder ins Lehramt.
Von Bottrop nach Oxford
Kottmann kann zig solche Beispiele nennen, wo durch eine direkte Ansprache verborgene Talente erblühten. Etwa das der jungen Frau aus einer armen Familie in Bottrop, die sich wenig zutraute und nun ein Studium in Oxford beginnt. Kottmann kann über solche Entwicklungen immer wieder ins Staunen geraten. Tausenden jungen Menschen habe das Programm den Weg in eine Berufsausbildung oder ein Studium geebnet, sagt Kottmann und verweist auf den Fachkräftemangel. „Wir schauen uns die Menschen jenseits von Schulfächern und Noten an und verknüpfen das mit den Bedürfnissen der Gesellschaft.“
>>>> Talentförderung startete in Gelsenkirchen
2009 entwickelte der studierte Chemiker und Arbeitswissenschaftler Marcus Kottmann an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen die erste Talentförderung für Kinder und Jugendliche aus weniger privilegierten Verhältnissen an einer deutschen Hochschule. Mit Suat Yilmaz als erstem Talentscout begann die Arbeit mit einigen Schulen im Umfeld.
Rasch interessierten sich immer mehr Schulen und Hochschulen für das Projekt. Nach einer Ausweitung 2014 wurde das NRW-Talentscouting 2017 auf dann 17 Partnerhochschulen, rund 400 Schulen und rund 20.000 Jugendlichen vergrößert, die von 70 Scouts begleitet wurden. Mit der aktuellen Aufstockung auf 100 ausgebildete Talentscouts und rund 600 Partnerschulen ist das Angebot beinahe NRW-weit vertreten.
Auch andere Bundesländer sind auf das erfolgreiche Förderprogramm aufmerksam geworden. So arbeitet seit Kurzem ein in Gelsenkirchen ausgebildeter Talentscout im Berliner Brennpunkt-Bezirks Neukölln. Das Land Hessen plant, ein eigenes Programm nach NRW-Vorbild aufzubauen.