Essen. Pisa zeigt: Zu viele Kinder bleiben auf der Strecke. Seit Jahrzehnten belegen Studien die Mängel des Bildungssystems. Was sich jetzt ändern muss.

Es ist zum Verzweifeln. Bei den Pisa-Tests fahren die 15-Jährigen die schlechtesten Ergebnisse ein, die je für Deutschland gemessen wurden. Zudem ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit schwachen Ergebnissen stark gestiegen: In Mathematik scheitert knapp ein Drittel an einfachen Aufgaben, im Lesen und in den Naturwissenschaften etwa ein Viertel. Bei vielen Schülerinnen und Schülern ist somit der Aufstieg durch Bildung beendet, bevor er überhaupt begonnen hat. Fachkräftemangel? Akademikerbedarf? Innovationskräfte? Findige Jungunternehmer? War da was? Pisa 2023: Eine größere Klatsche für das deutsche Bildungssystem und die Zukunftsfähigkeit des Landes lässt sich kaum vorstellen.

Es ist zum Verzweifeln, weil es erwartbar war. Ob IQB-Bildungstrend, IGLU-Grundschulstudie oder Bildungsmonitor des Instituts der deutschen Wirtschaft – eine Bildungsstudie nach der anderen kommt an verschiedenen Stellen des Bildungssystems zu ähnlichen Ergebnissen: Es wird nicht besser, nein, es wird schlechter. Und immer wieder schreiben die Experten der Politik ins Zeugnis: Nirgendwo ist der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft so stark wie in Deutschland. Mit anderen Worten: Wir lassen es zu, dass jedes Jahr viele Tausend talentierte Kinder durchs Raster fallen. Das ist nicht nur beschämend, das ist dumm.

Das Bildungssystem ist sozial ungerecht

Was läuft schief? Wenn sich trotz einer immer wieder gleichlautend vorgebrachten Analyse kaum etwas verbessert, muss man fast den Verdacht haben: Es soll sich gar nichts ändern! Die selektive Wirkung des deutschen Bildungssystems wurde zwar vielfach bewiesen und politisch beklagt, ist aber offensichtlich trotzdem zementiert und scheint daher geradezu erwünscht zu sein.

Mit der ersten Pisa-Studie ereilte Deutschland 2001 der berühmte Schock. Die Ergebnisse entlarvten das Selbstverständnis der Deutschen als große Bildungsnation als Mythos. Und zum ersten Mal wurde klar sichtbar, dass Kinder aus schwierigen Verhältnissen durchweg schlechter abschnitten. Später wurde dieser Schock oft als heilsam bezeichnet, weil er wichtige Reformen anstieß. Tatsächlich wurden die Ergebnisse für rund zehn Jahre besser, doch dann sackten sie wieder ab.

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Viele Gründe lassen sich für das schlechte Abschneiden aufzählen. Die Pandemie, die Zuwanderung, der Lehrkräftemangel, geringe Bildungsausgaben. Die Pisa-Daten zeigen aber auch, dass andere Länder deutlich besser durch die Pandemie gekommen sind. Hier fehlten vielerorts digitale Lehr- und Lernkonzepte sowie die nötige Ausstattung. Und dass sich die Schülerschaft stark verändern würde, war absehbar. Bereits Anfang der 2000er-Jahre warnten Bildungsforscher vor einer sich absehbar wandelnden Schülerschaft. Dann kam die Zuwanderungswelle 2015/2016, dann der Ukraine-Krieg.

Die Rezepte sind lange bekannt

Nun sind die Kinder da und haben ein Recht auf Bildung, doch dieser Verantwortung wird der deutsche Staat nicht gerecht, wie die Pisa-Forscher deutlich machen: „Es ist offensichtlich, dass die Integration der Jugendlichen der ersten Generation in das deutsche Bildungssystem nicht gelingt.“ Vor Ort, an den Schulen in den Brennpunktvierteln der Großstädte, sagen die Pädagogen angesichts der wachsenden Herausforderungen schon lange: „Das Bildungssystem fliegt uns um die Ohren.“

Es ist zum Verzweifeln. Weil die Rezepte lange bekannt sind und von Bildungsexperten bei jeder passenden Gelegenheit gebetsmühlenartig aufgezählt werden: Verbindliche Sprachtests im Kindergartenalter samt Sprachförderung. Mehr frühkindliche Bildung. Ein ausgebauter Ganztag, der mehr ist als Verwahrung. Mehr Geld und Personal für Schulen in sozialen Brennpunkten. Mehr Lehrkräfte. Mehr Sozialarbeiter und multiprofessionelle Teams. Sanierte Schulen. Eine flächendeckende Digitalisierung. Alles bekannt, alles Konsens – dennoch geht es viel zu langsam voran.

Mit milliardenschweren Fördermaßnahmen wie dem Digitalpakt oder dem Startchancenprogramm versucht die Politik, sich gegen den Trend zu stemmen. Doch selbst der renommierte Bildungsforscher Olaf Köller, Berater der Länder in der Kultusministerkonferenz, wagt im „Spiegel“ die Prognose: „Es wird nicht schaden, aber es wird auch nichts nützen.“ Davon würden benachteiligte Jugendliche nicht besser lesen oder rechnen.

Zeit für eine Reformdebatte

Wenn alles Herumdoktern am System seit Jahrzehnten keine Besserung gebracht hat, ist es Zeit, sich das System selbst vorzunehmen. Außerhalb des deutschen Sprachraums ist die Aufteilung in drei – oder auch mehr – unterschiedliche Bildungsgänge direkt nach der Grundschule nirgendwo zu finden. Es hat seinen Ursprung im Ständestaat des 18. Jahrhunderts und den damaligen Erfordernissen der Industrialisierung: Volksschulen für die Arbeiter und Handwerker, Realschulen für Angestellte, Gymnasien für die Akademiker und Wirtschaftseliten.

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Ist das noch zeitgemäß? Ist dieses Ständesystem angesichts von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz nicht vielmehr Hürde als Hilfe bei der Vorbereitung auf Berufe, die es heute teils noch gar nicht gibt? Wissenschaftlich ist es kaum umstritten, dass man Grundschulkinder nicht nach Begabungstypen einteilen und auf entsprechende Schultypen verteilen kann. Die Frage drängt sich daher auf: Wäre es nicht gerechter, sämtliche Ressourcen in einer anspruchsvollen Schule für alle zu bündeln, und somit zumindest die Voraussetzungen für den Lernerfolg aller Kinder zu bieten?

Sicher, ein Garant für Erfolg wäre auch das nicht, denn am Ende kommt es immer darauf an, wie der Unterricht gestaltet ist. Aber auch wenn Bildungspolitiker eine solche Diskussion scheuen wie der Teufel das Weihwasser – angesichts des neuerlichen Pisa-Schocks muss eine grundsätzliche Reformdebatte über ein offenbar untaugliches Bildungssystem beginnen.