Essen. Wie das jetzige Schulsystem gerechter werden kann, haben wir Vertreter von Lehrern, Eltern und Schülern gefragt. Das sind ihre Vorschläge.
Wie wird Schule gerechter? Dass große Ungleichheiten bestehen zwischen Schulformen und Städten, zeigt unsere Familien-Check-Umfrage auf. Darüber sprachen wir mit Ayla Celik, NRW-Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, mit Christian Beckmann von der Landeselternkonferenz und mit Thaddäus Hildemann von der Landesschülervertretung, selbst noch Gesamtschüler in Mönchengladbach.
Die Herausforderungen für die Lehrkräfte werden größer, zugleich sinken die Leistungen der Schülerinnen und Schüler – woran liegt das?
Celik: Eine Bildungsstudie nach der anderen zeigt, dass die Leistungen der Schüler in NRW nicht gut sind oder sogar schlechter werden. Das ist eine direkte Folge des Fach- und Lehrkräftemangels in NRW. Und das beginnt nicht erst in der Schule, sondern bereits in der frühkindlichen Bildung. Wir haben ein Bildungssystem, das Kindern unterschiedliche Startchancen bietet. Kinder aus einem ressourcenschwachen Umfeld werden vom System nicht aufgefangen. Das führt zu Bildungslücken, die später nicht mehr geschlossen werden können. Jedes Jahr verlassen in NRW mehr als 10.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Das ist ein Armutszeugnis für die Gesellschaft.
Hildemann: Es ist eine Zumutung mit 30 Personen in einer Klasse zu lernen, schon 25 sind zu viel, um individuell zu fördern und alle Sachen abzufangen, die schon viel früher schief gelaufen sind. Die Iglu-Studie hat gezeigt, dass Kinder, die in Haushalten mit vielen Büchern aufwachsen, ihren Mitschülern im Schnitt um ein Jahr voraus sind.
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Werden Schülerinnen und Schüler in sozial schwachen Vierteln und prekären Verhältnissen abgehängt?
Celik: Wir lassen es zu, dass Kinder in Armut nicht profitieren können von guter Bildung. Und wir wissen, dass Armut oft auch Bildungsarmut bedeutet. Wir müssen diesen Kreislauf durchbrechen. Die Lehrpläne müssen der Wirklichkeit angepasst werden, auch die Zahl der Klassenarbeiten muss weiter sinken. Doch dann heißt es immer, wir schrauben die Ansprüche herunter, aber darum geht es nicht. Als Lehrkraft benötige ich keine Klassenarbeiten, um zu wissen, was meine Schüler brauchen.
Hildemann: In meiner Wahrnehmung ist es ganz häufig so, dass in Regionen, die schwächer sind, weniger auf die Schule an sich geachtet wird. Wenn wir bei der Schülervertretung Beschwerden oder Anfragen zum Thema schreiben, folgt oft ein Ping-Pong-Spiel zwischen Schulträger und Land. Die Kommune sagt, dafür ist das Land verantwortlich. Das Land verweist auf den Schulträger. Am Ende bleiben die Schüler auf der Strecke, wenn nicht saniert wird.
Geben Eltern ihren Erziehungsauftrag an die Schulen ab?
Beckmann: Diese Eltern gibt es, keine Frage. Einige Eltern sind froh, wenn in der Schule jemand da ist, der ihrem Kind Förderung bietet, die sie zu Hause aus verschiedenen Gründen nicht geben können. Es ist wichtig, dass die Schule das auffängt, es sollte aber nicht ihre Hauptaufgabe sein. Wir haben in NRW die größten Schulklassen, den höchsten Unterrichtsausfall. Von einer Schule habe ich kürzlich gehört, dass eine Lehrkraft vier Klassen gleichzeitig in der Mensa beaufsichtigen musste. Von Unterricht kann man da nicht mehr sprechen.
Celik: Die Arbeitsbedingungen sind desolat, die Lehrkräfte sind am Limit. Das führt dazu, dass sie Kinder und Jugendliche nicht so begleiten und fördern können, wie es sein müsste. Im vergangenen Jahr haben 800 Beschäftigte den Schuldienst verlassen, darunter waren fast 300 verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer. Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern, aber dazu braucht es den politischen Willen.
Gesamtschulen sind im Ruhrgebiet fast durchgehend schlechter ausgestattet als die Gymnasien – warum ist das so und wie könnte man das ändern?
Celik: Es gibt sicher auch gute Gesamtschulen in NRW. Aber der Sanierungsstau in NRW summiert sich auf über zehn Milliarden Euro. Das sagt schon alles. Schulgebäude, in denen der Putz von der Decke fällt und Fenster nicht schließen, vermitteln keine gute Lernatmosphäre und signalisieren den Schülern, dass sie mehr nicht wert sind. Dabei kommt es auf die Finanzkraft der jeweiligen Kommune an. Deshalb fordern wir von Land und Bund, die Städte zu entschulden, damit die Kommunen wieder investieren können.
Hildemann: Die Bewertungen des Familienchecks zeigen ein Empfinden. Es entspricht dem Gefühl, dass die Gesellschaft den Schülern vermittelt: Ich habe sowieso keine Perspektive, wenn ich auf eine Real- oder Hauptschule gehe. Zum Teil trifft das auch auf die Gesamtschule zu. Wenn sich zu diesem Empfinden noch die Wirklichkeit gesellt, dass man in einem besonders maroden Gebäude sitzt, dann drückt das total auf das Selbstwertgefühl.
Sollte man die Gymnasien abschaffen?
Celik: Es ist nicht nötig, die Gymnasien abzuschaffen, aber wir müssen die Schulen besser unterstützen, die es nötig haben. Auf lange Sicht kann das zu einer Schule für alle führen. Zudem sollte die Lehrkräfteausbildung reformiert werden. Wozu brauchen wir Lehrkräfte für Grundschulen, für Sek I. und für Gymnasien? Wir brauchen Lehrkräfte, die Kinder unterrichten!
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Hildemann: Studien zeigen ganz klar, wie viele Kinder aus nicht-akademischen Familien ihr Abitur machen – nur etwa ein Viertel. Und bei gleichen Kompetenzen entscheidet oft die soziale Herkunft, auf welche Schule man geht. Man drückt einem zehnjährigen Kind eine Schulempfehlung auf und bestimmt damit große Teile des Lebens voraus. Das ist ganz klar strukturelle Diskriminierung. Das mehrgliedrige Schulsystem gehört abgeschafft.
Beckmann: Wir machen uns stark für eine Schule für alle und das längere gemeinsame Lernen. Schule sollte vom Kind aus gedacht werden. Dafür müssen alle Kinder die gleichen Startmöglichkeiten haben. Da gibt es viele Hürden. Das fängt in der Kita an. In NRW fehlen mehr als Hunderttausend Plätze.
Welche Maßnahmen würden Sie vorschlagen für mehr Bildungsgerechtigkeit?
Celik: Wir benötigen einen echten schulscharfen Sozialindex, der Schulen in schwierigen Vierteln wirksam unterstützt. Das Geld ist da, es muss nur anders verteilt werden. Wir haben Kinder mit unterschiedlich schweren Rucksäcken, sagen aber allen: jetzt schwimmt auf die andere Seite. Das funktioniert nicht.
Die digitale Ausstattung der Schulen ist ganz unterschiedlich in den Städten. Woran liegt es?
Beckmann: Die Digitalisierung in den Schulen ist in NRW ein einziger Flickenteppich. Es gibt Städte wie Gelsenkirchen, die den Kindern digitale Lernhilfen zur Verfügung stellen. In anderen Kommunen wird die Verantwortung bei den Eltern abgeladen, in wieder anderen stehen gar keine digitalen Lernmittel zur Verfügung. Es kommt vor, dass Schüler deshalb die Stadt wechseln, um in der Schule mit einem iPad arbeiten zu können.
Hildemann: Da ist man wieder bei der sozialen Frage. Auch wenn die Anschaffung eines iPads für Eltern freiwillig ist, gibt es den starken sozialem Druck, es zu tun. Die Verantwortung sollte nicht bei den Eltern liegen und auch nicht bei den Kommunen. Es ist Aufgabe des Landes, die Ausstattung für alle Schüler zu stellen. Damit es eben kein Flickenteppich bleibt.
Machen iPads den Unterricht besser?
Celik: Mit einem iPad für jedes Kind ist es nicht getan. Das Gerät ist nur ein Werkzeug, die Schüler müssen den sinnvollen Umgang damit lernen. Das bedeutet, dass alle Lehrkräfte weitergebildet werden müssen, damit sie lernen, die Technik pädagogisch sinnvoll einzusetzen. Mit Blick auf künstliche Intelligenz und ChatGPT stehen wir vor noch viel größeren Herausforderungen. Darauf reagiert die Bildungspolitik viel zu langsam.
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