Berlin. Therapeutin Christina Diamantis ist auf toxische Partnerschaften spezialisiert. Im Interview nennt sie Warnsignale und wichtige Tipps.
Für Frauen sind partnerschaftliche Gewalt sowie sexualisierte Gewalt außerhalb der Partnerschaft nach wie vor eine große Gefahr. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2024 ist jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens davon betroffen. Die Zahl der Opfer ist groß. Auch Narzissmus spielt in vielen Fällen eine Rolle. Das theoretische Wissen rund um das Thema und die Auswirkungen auf partnerschaftliche Beziehungen sei jedoch nicht ausreichend, um Opfern die Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigen. Davon ist Paar- und Einzeltherapeutin Christina Diamantis überzeugt.
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Die Paartherapeutin, Autorin und Podcasterin hat sich auf das Thema Narzissmus und toxische Beziehungen spezialisiert, denn in ihren Augen wird die Problematik in der Gesellschaft stark unterschätzt. Einst selbst betroffen, hat Diamantis sich zum Ziel gesetzt, über partnerschaftliche Gewalt, toxische Beziehungen und deren Dynamik aufzuklären. Zudem betreut sie betroffene Frauen und hilft ihnen beim Verarbeiten, Verstehen und aus den Selbstvorwürfen.
Frau Diamantis, in Ihrem Podcast „Ich bin die dritte Frau“ kommen nur Frauen zu Wort, die einen narzisstischen Partner hatten. Warum keine Männer?
Christina Diamantis: Es ist nicht so, dass weiblicher Narzissmus nicht existiert. Natürlich gibt es auch narzisstische Frauen, und der Schaden, den sie bei ihren Partnern anrichten, ist derselbe. Bei narzisstischer Gewalt von Frauen gegenüber Männern handelt es sich jedoch primär um Einzelschicksale. Männlicher Narzissmus wiegt insofern schwerer, als er ein strukturelles Problem ist und somit weit mehr als nur Paarbeziehungen betrifft. Meines Erachtens muss männlicher Narzissmus mit Blick auf den gesundheitlichen Schaden, den er gesamtgesellschaftlich verursacht, viel ernster genommen werden. Aus meiner Sicht ist er Risikofaktor Nummer eins.
(Anm. d. R.: Psychologinnen und Psychologen der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster bestätigten 2023 in der bislang umfangreichsten Studie zu Geschlechts- und Altersunterschieden zum Thema Narzissmus das bisherige Forschungsbild, wonach Narzissmus unter Männern stärker verbreitet ist als bei Frauen. Schon 2014 sah ein Forscherteam aus den USA eine Erklärung in stereotypischen Geschlechterrollen, die in der Gesellschaft fest verankert seien.)
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Narzisstische Züge: Sind wir etwa alle betroffen?
Narzissmus rutscht vermutlich auch deshalb immer stärker in den Fokus. Oft wird neben Narzissmus auch von narzisstischen Zügen gesprochen. Gibt es die überhaupt?
Diamantis: Nein. Der einzige Unterschied, der zwischen einem Mann mit narzisstischen Zügen und einem Mann mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung besteht, ist eine erteilte Diagnose. Sonst gibt es keinen Unterschied. Wichtig andererseits: Wir sind nicht, wie oft behauptet wird, alle ein bisschen narzisstisch.
Wie unterscheidet man sauber zwischen, sagen wir, selbstbezogenem, egoistischem Verhalten und Narzissmus?
Diamantis: Schauen wir uns die Diagnosemerkmale für Narzissmus doch einmal an: Hier haben wir neben dem Mangel an Empathie, Selbstüberschätzung oder Überheblichkeit etwa auch eine größenwahnsinnige Anspruchshaltung oder Neid. Das sind für sich genommen zunächst mögliche menschliche Züge. Narzisstisch werden sie dann, wenn sie auf Kosten der psychischen, körperlichen, sozialen, finanziellen und der sexualisierten Sicherheit einer anderen Person gehen. Nur dann kann man auch von Narzissmus sprechen.
Ist dies der Fall, so sagen Sie, seien die Geschichten der betroffenen Frauen eigentlich immer gleich. Wie muss man sich das vorstellen?
Diamantis: Tatsächlich gibt es bei solchen Beziehungen eine Art Drehbuch. Es fängt immer mit der sogenannten Lovebombing-Phase an, in der die Frauen mit Komplimenten überschüttet, ja nahezu erhöht werden. In dieser Phase wird die Basis für die spätere emotionale Abhängigkeit der Frauen geschaffen. Der Narzisst ist zu Beginn sehr präsent, alles geht sehr schnell: schnell Beziehung, schnell intim, schnell zusammenziehen, schnell Heirat, schnell Kinder in manchen Fällen. Viele Frauen sagen rückblickend über diese Zeit, dass alles so schön gewesen sei, aber sogenannte Red Flags, eindeutige Warnsignale, gab es auch in dieser Phase schon reichlich. Allerdings konnten die Frauen diese aus verschiedenen Gründen nicht erkennen.
Toxische Beziehung: Darauf sollten Frauen achten
Welche Warnsignale sind das?
Diamantis: Ebendieses Gefühl, die Beziehung sei zu schön, um wahr zu sein. Denn meistens ist es auch am Ende nicht wahr. Die ständige Präsenz des Partners, das Bauchgefühl, dass alles zu schnell geht oder dass etwas nicht stimmt. Auch viele Fragen, die wie ein Verhör wirken, sind ein Warnzeichen, auch wenn das anfänglich noch als wahnsinniges Interesse und Aufmerksamkeit interpretiert wird. Außerdem sollte man reflektieren: Wie redet er mit anderen und wie redet er allgemein über Frauen? Wie redet er über seine Ex-Frau? Kommt es hier häufig zu Abwertungen?
Und warum können die Frauen diese Warnsignale nicht erkennen?
Diamantis: Zum einen bleibt Frauen, also den Opfern, durch das schnelle Tempo, in dem die Beziehung voranschreitet, keine Zeit, über die einzelnen Ereignisse nachzudenken und sie zu bewerten. Zum anderen geben ihnen bestimmte biochemische Prozesse im Gehirn dazu gar nicht die Chance. Zu Beginn eigentlich jeder neuen Beziehung werden Glückshormone ausgeschüttet, das Belohnungssystem wird aktiviert.
Wir alle kennen das Gefühl, verliebt zu sein, auf Wolke sieben zu schweben. Hinzu kommt: Frauen werden in puncto Beziehung anders sozialisiert als Männer. Uns wird beigebracht, brav zu sein, zu lächeln und immer freundlich zu sein. Es wird uns nicht beigebracht, auf unser Bauchgefühl zu hören. Wir hängen noch immer in gesellschaftlich patriarchalen Strukturen fest.
Narzissmus hat Muster – Der Liebesbekundung folgt ein Liebesentzug
Was passiert dann?
Diamantis: Sobald der narzisstische Partner – aber reden wir doch auch hier Klartext –, der Täter sich sicher fühlt und spürt, dass er unentbehrlich für diese Frau geworden ist, wird sein eigentlicher Charakter sichtbar. Er fängt an zu testen, wie weit er gehen kann. Die perfiden, subtilen Spielchen gehen los: Plötzlich antwortet er auf Nachrichten nicht mehr so schnell, das „Guten Morgen“ fehlt, obwohl es das drei Monate lang jeden Tag gab. Dieses Verhalten steigert sich immer mehr bis hin zu sehr offensichtlichen Abwertungen, Liebesentzug, Demütigungen, Kritik – teils geradeheraus, manchmal verpackt in einen vermeintlichen Witz.
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Womit wird diese plötzliche Kritik begründet?
Diamantis: Das kann der falsche Rock sein, das falsche Essen, der falsche Einkauf. Es kann ein Lachen an angeblich falscher Stelle sein. Oft fängt dann auch das Gaslighting an, sprich, Tatsachen werden verdreht oder im Nachhinein vehement verleugnet. Es fallen Sätze wie „Ach Schatz, das habe ich so nicht gesagt. Du weißt doch, wir waren beide ein bisschen betrunken.“
Das führt dazu, dass das Opfer mit der Zeit immer mehr verunsichert wird, die seelischen Schäden zwar spüren, aber nicht greifen können. Viele Frauen erzählen, dass sie sich manchmal gewünscht haben, ihr narzisstischer Partner hätte sie geschlagen. Einerseits weil andere die unsichtbare Gewalt nicht sehen und so oft auch nicht ernst nehmen. Zweitens weil auch die Frauen, wenn sie körperlichen Schmerz spüren, eher begreifen, was da mit ihnen passiert.
Manipulieren Narzissten ihre Partnerinnen ganz bewusst und handeln wissentlich, oder läuft all das eher unterbewusst, intuitiv ab?
Diamantis: Das ist ein ganz bewusstes, berechnendes Verhalten. Sie entscheiden sich dafür, in der ersten Phase der Beziehung ein völlig anderes Bild von sich darzustellen: sehr fürsorglich, sehr empathisch, aufmerksam und hilfsbereit. Das ist für den Narzissten wahnsinnig anstrengend, da er sich permanent verstellen muss. Ab einem gewissen Punkt reagieren Narzissten in dieser Phase daher auch, wenn die Frau versucht, ihnen Grenzen zu setzen.
Ein Beispiel: Die Frau möchte sich doch lieber mit einer Freundin treffen, weil der Partner sich zu lange nicht gemeldet hat. In der Anfangsphase reagiert der dann wahrscheinlich noch mit Verständnis. Drei Monate später würde die Frau dafür abgewertet werden oder vielleicht sogar eine geknallt bekommen. Das ist ein Verhaltensmuster, dem der Narzisst nicht entkommen kann und auch nicht will. Aus seiner Sicht hat er das Recht, so zu handeln.
Narzissmus in Beziehung: „Frauen entwickeln Suchtverhalten“
Warum lassen sich betroffene Frauen all das gefallen?
Diamantis: Die sich immer weiter steigernde Verunsicherung löst beim Opfer enormen Stress aus. Erneut schüttet der Körper einen Cocktail an Hormonen aus. Am bekanntesten: Cortisol, das Stresshormon Nummer eins. Dem extremen Stress und der Abwertung folgt dann wieder extreme Zuneigung und eine Idealisierung durch den Partner.
Durch diesen ständigen Wechsel kommt es auch zu einem ständigen Wechsel der Hormone, die den Körper durchfluten, und damit des Gefühlszustandes. Dadurch entwickeln die Frauen regelrecht ein Suchtverhalten. Dafür muss der Täter dem Opfer die Möglichkeit der Hoffnung geben. Das Gehirn ist ab einem gewissen Zeitpunkt darauf konditioniert, alles zu versuchen, um den Erstzustand der Beziehung wiederherzustellen. Das Bittere: Das wird nie funktionieren, weil der Erstzustand ja gefakt war.
Der anfänglichen, noch vermeintlich angenehmen emotionalen Abhängigkeit folgt also ein Suchtverhalten? Die Frauen werden abhängig vom Partner? Von dessen Zuneigung?
Diamantis: Genau. Ihr Gehirn ist irgendwann so geschädigt, dass sie phasenweise handlungsunfähig sind. Die mangelnde Fähigkeit, das Verhalten des Partners objektiv zu bewerten, für sich selbst zu entscheiden, sowie die kognitive Dissonanz, in der sich die Frauen befinden, hindern sie daran zu gehen. Ihr Gefühlsleben und ihre innere Wahrnehmung stimmen nicht mit dem überein, was ihnen ihr Partner sagt oder vorspielt. Das Gehirn einer Frau, die unter narzisstisch partnerschaftlicher Gewalt leidet, egal ob psychisch oder körperlich, würde im MRT-Scan genauso aussehen wie das eines Heroinabhängigen. Man kann also sagen, die Frauen sind von ihren Partnern abhängig wie von Heroin.
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Trennung von Narzisst: Expertin gibt wichtige Tipps
Was braucht es für Betroffene, damit sie merken, dass sie von einem Narzissten abhängig sind?
Diamantis: Mir ist hier ganz wichtig zu sagen, dass das jeder Frau passieren kann. Ob sich jemand mit einem Narzissten einlässt oder nicht, hat nichts mit dem eigenen Selbstwert, einer kürzlichen Trennung, Naivität oder Intelligenz zu tun. Als soziale Wesen sind wir alle darauf angewiesen, dass uns Menschen wertschätzen, dass uns Menschen loben und anerkennen. Was es braucht, ist mehr Aufklärung zum Thema Narzissmus, damit sich Frauen dem toxischen Verhalten ihres Partners bewusst werden.
Meine älteste Klientin war 78 Jahre alt und 40 Jahre in ihrer Beziehung gefangen. Als sie zu mir kam, sagte sie mir: „Ich habe erst jetzt erfahren, was Narzissmus ist.“ Sie habe gespürt, dass irgendwas nicht stimmt, gedacht, dass sie schlicht eine schlechte Ehe führe, aber dass sie eigentlich partnerschaftliche Gewalt erlebe, habe sie nie gedacht. Jedem mit komischem Bauchgefühl empfehle ich daher dringend, sich ausführlich über Narzissmus zu informieren.
Was raten Sie Betroffenen, die merken, dass sie es offenbar mit einem narzisstischen Partner zu tun haben? Auch mit Blick auf eine Trennung?
Diamantis: Das ist in der Tat nicht einfach. Frauen brauchen im Durchschnitt neun Anläufe, um die toxische Beziehung tatsächlich dauerhaft zu beenden. (Anm. d. R: Andere Experten sprechen teilweise auch von durchschnittlich sieben Anläufen) Wichtig ist, dass sie das nicht mit sich selbst ausmachen, sondern sich Hilfe holen, darüber reden, soziale Kontakte aktivieren, sich vielleicht sogar beispielsweise an die Polizei oder Frauenhäuser wenden für ein Beratungsgespräch. Eine Trennung von narzisstischen Männern muss gut geplant werden. Ihnen den Spiegel vorzuhalten, in der Hoffnung, dass sich etwas ändert, nützt nichts. Das wird nicht passieren. Dafür sind sie zu sehr von sich überzeugt.
Das heißt, bis man tatsächlich getrennt ist, auf verbale Angriffe wie etwa Vorwürfe oder Beleidigungen nicht reagieren, nicht antworten, sich in kein Gespräch verwickeln lassen. Ein Gespräch birgt immer die größte Gefahr, sich wieder „einfangen zu lassen“. Mit Narzissten gilt Folgendes: Alles, was du sagst, kann und wird von ihnen gegen dich verwendet werden. Je weniger Informationen Frauen in der Endphase preisgeben, umso eher haben sie die Möglichkeit, emotional etwas Abstand zu gewinnen und sich zu sortieren, um die nächsten Schritte einzuleiten.
Probleme in der Beziehung werden noch zu häufig als Privatsache angesehen
Inwieweit können Außenstehende das narzisstische Verhalten des Partners überhaupt erkennen?
Diamantis: Das ist schwierig. In der Tat passieren die schlimmsten Dinge daheim, abgeschottet. Dem Täter ist sehr bewusst, was er seiner Partnerin antut. Deswegen versucht er auch, mit verschiedenen Taktiken soziale Kontakte zu verhindern oder schlecht zu machen, um die Frauen zu isolieren. Dadurch bekommt man von außen häufig nichts mit. Und selbst wenn Außenstehenden durch verändertes Verhalten oder Aussehen der Frauen etwas auffällt, ist die Scham der Opfer meist schon so groß, dass sie nicht über ihre Probleme sprechen.
Nur Personen, die ihnen sehr nahestehen, wie etwa die Schwester oder die beste Freundin, haben mitunter die Chance und auch den Mut, ihre Beobachtungen anzusprechen und betroffenen Frauen ihr eigenes Verhalten zu spiegeln. Das Problem ist allerdings, dass Beziehungsprobleme häufig immer noch als Privatsache angesehen werden, in die man sich nicht einmischt. Das ist die größte Herausforderung. Und das muss sich dringend ändern.
Was braucht es, damit betroffene Frauen sich öffnen? Damit sie es schaffen, sich zu lösen?
Diamantis: Auch dafür braucht es viel mehr Aufklärung. Jeder sollte beispielsweise verstehen, wie Neid eines Narzissten gelebt in einer Beziehung aussieht, wie die Anspruchshaltung, wie die Manipulation. Jeder sollte wissen, welche Formen der Gewalt es gibt. Schule, Jugendämter, Verfahrensbeistände, Richter, soziale Einrichtungen, aber auch Polizei und Rettungsdienste müssen über die Dynamiken toxischer Beziehungen und Narzissmus nicht nur Bescheid wissen, sondern auch ein Verständnis für die Opfer entwickeln. Sie müssen verstehen, warum betroffene Frauen so oft zurückgehen und warum es für sie so schwierig ist, das alles zu realisieren.
Und wie sieht es mit konkreter Hilfe für die Opfer aus?
Diamantis: Hier braucht es in meinen Augen die richtigen Ansätze in der Therapie – fernab von der Suche nach dem inneren Kind oder nach den eigenen Anteilen. Das bringt betroffene Frauen dazu, sich mitverantwortlich zu fühlen. Dadurch sind solche Therapien häufig extrem retraumatisierend. Frauen mit einem narzisstischen Partner sind Opfer von Gewalt geworden. Sie haben daran keinen eigenen Anteil. Sie trifft keine Schuld. Wenn ich „Selbst schuld“ oder so etwas höre, bekomme ich eine Krise. Das muss aufhören.
Hier finden betroffene Frauen Hilfe
- Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen 08000 116 016
- Notruf der Polizei 110
- Frauenhäuser in Ihrer Umgebung
- Opferberatung Weißer Ring
- Frauenberatungsstellen in Ihrer Stadt