Berlin. Christina Clemm vertritt Frauen in Not und hat ein Buch darüber geschrieben. Ein Interview über Frauenhass, Gewalt und Femizide.
Trotz aller Bemühungen um Gleichberechtigung: Frauen erfahren in der deutschen Gesellschaft nach wie vor Sexismus, Gewalt und Hass – viel zu oft mit tödlichen Folgen. Die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm vertritt seit 25 Jahren Opfer und ihre Angehörigen. Ihre Erfahrungen hat sie nun in dem Buch „Gegen Frauenhass“ aufgeschrieben. Im Interview erklärt sie, was in Gesellschaft und Justiz falsch läuft, warum Frauen in rechtsextremen Parteien vom Hass eher verschont bleiben und der Fall Rammstein juristisch schwer zu fassen ist.
Studien sehen Gewalt oder Gewaltbereitschaft in jeder dritten Beziehung. Wird unsere Gesellschaft – aller Errungenschaften für Frauen zum Trotz – sogar rauer gegenüber Frauen? Oder ist es das Ergebnis von mehr Aufklärung und einer höheren Bereitschaft, Gewalt gegenüber Frauen publik zu machen?
Christina Clemm: Man weiß es nicht genau. Studien weisen darauf hin, dass zwar das sogenannte Hellfeld zunimmt, also die Zahl der angezeigten Fälle. Aber auch das Dunkelfeld nimmt zu, also die verborgenen Fälle. Klar ist jedenfalls, dass es nicht weniger Gewalt gibt. Aus meiner Praxis kann ich sagen: Ich sehe immer heftigere Fälle von Gewalt. Nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch gegenüber queeren und migrantischen Personen. Das allgemein gesellschaftliche Klima wird schärfer, Konflikte werden größer. Ich lebe mitten in Berlin, da herrscht schon eine aggressive Grundhaltung. Aber am massivsten ist nach wie vor die Gewalt, die zu Hause ausgeübt wird.
Was läuft falsch?
Wir sind eine Gesellschaft, die zutiefst auf Sexismus beruht. Es gibt erfolgreiche, sichtbare Frauen. Aber nach wie vor ist die Gesellschaft im hierarchischen Geschlechterverhältnis aufgebaut. Das stabilisiert in letzter Konsequenz die Gewalt oder die Sorge der Frauen um ihre Unversehrtheit. Wenn wir das ändern wollen, müssen Männer etwas ändern, Privilegien abgeben.
Aber die Rolle von Männern und Frauen, die Aufteilung von Erwerbs- und Care-Arbeit: All das ist doch ein Riesenthema.
Ja, durchaus ein Riesenthema, aber ein ressourcenarmes. Es gibt viel zu wenig Beratungsstellen, Frauenhäuser, Kapazitäten bei der Polizei und der Justiz. Es gibt kaum Täterprogramme. Und: Spätestens in dem Moment, in dem Frauen Kinder bekommen, ist es nach wie vor dahin mit der Gleichstellung. Für Care-Arbeit nach der Elternzeit gibt es kein Geld, der Gender-Pay-Gap ist stabil ungerecht. Und die Politik ändert daran nichts, im Gegenteil. Die geplante Reform des Unterhaltsrechts soll nun auch noch gerade die Alleinerziehenden belasten zu Gunsten derjenigen, die einen geringeren Teil der Care-Arbeit übernehmen. Ungefähr 85 Prozent der Alleinerziehenden sind Mütter und vielen wird gar kein Unterhalt gezahlt. Es sind unglaublich viele Männer, die nicht ihrer Verantwortung nachkommen, die gar keinen Unterhalt zahlen. Jetzt eine Unterhaltsreform zu starten, die nicht ihren Fokus darauf hat, erst einmal dafür zu sorgen, dass die Verantwortung gerecht verteilt wird, ist genau das falsche Zeichen.
Frauen, die emanzipiert leben, in der Öffentlichkeit stehen und erfolgreich sind, etwa in der Politik: Wie erleben sie Frauenhass?
Sie sind anders gefährdet als ihre männlichen Kollegen. Es gibt viel Hass in den sozialen Medien. Frauen, die sich als Feministinnen bezeichnen wie Annalena Baerbock oder Lisa Paus, die Familienministerin, trifft dieser Hass vehement. Annalena Baerbock erfährt Vergewaltigungsandrohungen. Ihr wird vorgeworfen, ihre Kinder zu vernachlässigen. Wenn Lisa Paus ihr Veto einlegt, wie bei der Kindergrundsicherung, wird ihr „Kindergarten-Gehabe“ vorgeworfen und es werden frauenverachtende Memes gepostet. Wenn Christian Lindner wieder irgendetwas blockiert, wird über Sachargumente nachgedacht.
Wie ist das bei Frauen in rechten Parteien?
Das ist interessant. Sie bekommen nicht so viel Hass, weil sie antifeministisch agieren, weil sie ihre Mütterlichkeit betonen, so wie Giorgia Meloni, die postfaschistische Regierungschefin in Italien. Sie senden das Zeichen: Wir brauchen den Feminismus gar nicht. Niemand kann so glaubhaft den Antifeminismus vertreten wie AfD-Chefin Alice Weidel.
Gehören Frauenhass und Antifeminismus – also die pauschale Bekämpfung von feministischen Personen und Anliegen – in der Politik zusammen?
Ja, für rechtsextreme Politik ist er ein identitätsverbindendes Phänomen. Dazu gehören übrigens auch Rassismus und Antisemitismus. Diesen Kitt findet man bei Donald Trump, Jair Bolsonaro und auch bei Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan. Und auch bei rechtsextremen Attentätern – wie etwa die in Hanau oder Halle.
Warum sind Männer, auch wenn sie Gewalt gegen Frauen zutiefst ablehnen, mitunter gleichgültig gegenüber Frauenhass und Sexismus – anders etwa als beim Thema Rassismus, Antisemitismus, Homophobie?
Weil es auch um sie geht. Sie müssten Privilegien abgeben. Es reicht nicht aus, zu sagen, ich bin selbst nicht gewalttätig. Sondern sie müssen handeln. Andere Männer abhalten, frauenverachtende Strukturen thematisieren, aggressive Männlichkeit problematisieren.
Kommt es zum Äußersten, zur Tötung von Frauen, ist oft von „Familiendrama“ die Rede. Ist das nicht eine Verharmlosung?
Ich plädiere dafür, Morde an Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts verübt werden, als Femizide zu bezeichnen. Der Begriff „Familiendrama“ klingt wie ein Theaterstück. Aber nicht nur die Morde, auch die Verletzungen der Überlebenden sind sehr brutal. Dazu gehört auch immer wieder, die Kinder zu töten, oder nur die Kinder zu töten – aus Rache, weil die Frau ihn verlassen hat. Oft wird von Verzweiflungstaten gesprochen, fehlender Impulskontrolle. In der Regel stimmt das nicht.
Die Taten sind wahrscheinlich lange geplant …
Genau. Häufig wurden die Frauen schon vorher lange bedroht, oft gab es vorher schon Gewalt. Es passiert einem nicht einfach so, zufällig. Ein Tatmesser muss man einstecken, eine Pistole kaufen, Erwürgen dauert.
Warum bleiben Männer so oft unbehelligt?
Weil sie es können. Weil niemand sie davon abhält. Natürlich schon, wenn sie töten, aber sonst können sie recht sicher sein, dass sie weder staatlich noch gesellschaftlich etwas zu befürchten haben. Werden Zahlen zum Ausmaß von Gewalt gegen Frauen veröffentlicht, gibt es immer ein kurzes Entsetzen über die Dimension, aber im Kern verändert sich nichts.
Wie schätzen Sie unter diesen Gesichtspunkten den Fall Rammstein/Till Lindemann ein?
Im Moment sieht es nicht so aus, als würde es zu einer Verurteilung kommen. Es fehlen schlicht Betroffene, die aus ihrer Anonymität herauskommen und aussagen. Das ist verständlich, aber dann kann eben ein Strafverfahren nicht geführt werden, dann hat strafrechtlich die Unschuldsvermutung selbstverständlich Bestand.
Aber was tun?
Noch interessanter ist ja eigentlich die Frage: Was sind das für Strukturen, in denen es zu erheblichem Machtmissbrauch kommen kann, der für Beteiligte traumatisierend und äußerst belastend ist. Man müsste endlich über Männlichkeit reden. Es ist doch abwegig, dass Männer Gefallen an Sex mit einer Frau haben, die völlig erstarrt ist – und das dann als angemessen sehen. Als Freiheit womöglich, als verständliche Lust. Sie denken ja nicht ernsthaft, dass ihr das gefällt, sie haben Gefallen an dem Missbrauch ihres Gegenübers. Warum kann man dies mehr oder weniger öffentlich machen und niemand verhindert es? Warum führt es nicht zu einem Ansehensverlust?
Der spanische Fußballpräsident Luis Rubiales küsste eine Spielerin ungefragt auf den Mund. Die Empörung der Weltöffentlichkeit war gigantisch.
Er hat das ja auch gemacht, obwohl es vor der Weltöffentlichkeit war. Die Frage ist, was passiert wäre, wenn er die Spielerin unbeobachtet geküsst hätte. Die Spielerin hätte keine Chance mit ihrem Bericht gehabt, im Gegenteil, die Öffentlichkeit wäre über sie hergefallen.
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Was muss sich in der Justiz ändern?
Wir brauchen mehr Kapazitäten für schnellere Verfahren. Es darf nicht sein, dass es Jahre dauert, bis es bei häuslicher Gewalt zu einer Bestrafung des Täters kommt. Wir brauchen mehr Schutz für die Opfer und mehr Druck auf die Täter und spezialisierte Gerichte, die sich mit Opfermythen auskennen. Wir brauchen als Reaktion auf Frauenhass, häusliche Gewalt, Machtmissbrauch und Femizide aber viel mehr – nämlich den gesamtgesellschaftlichen Willen, die Gewalt zu bekämpfen.
Christina Clemm: Gegen Frauenhass. Hanser Verlag, 256 Seiten, 22 Euro