Berlin/Karlsruhe. Wer sich nach Entscheidungen anderer richtet, schadet dem eigenen Selbstbewusstsein. Es braucht keine Therapie, um dagegen vorzugehen.
Unser Leben ist voller Kompromisse. Bernd will im Urlaub in die Berge, Silke möchte lieber an den Strand. Er gibt ihren Wünschen nach. Laura möchte gern griechisches Essen, geht aber mit Nicole in ein indisches Restaurant. Solche Situationen sind alltäglich und unproblematisch. „Wir Menschen haben ein Bedürfnis nach Bindung. Es ist normal, dass man auf andere angewiesen ist und es einem nicht egal ist, was andere von einem halten“, so Ulrike Bossmann. Dennoch ist es wichtig, ab und zu den eigenen Willen durchzusetzen.
Die Psychologin klärt in ihrem Blog Soulsweet und ihrem Buch „People Pleasing: Raus aus der Harmoniefalle und weg mit dem schlechten Gewissen“ über die Gründe auf, aus denen Menschen ihre eigenen Wünschezurückstellen: „Menschen lernen bereits in der Kindheit im Elternhaus und in der Schule, dass sie andere im Blick haben müssen. Tun sie das nicht, passiert etwas Schlimmes: Sie werden ausgeschlossen oder ausgelacht oder andere sind verärgert, enttäuscht oder frustriert.“
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Je schwächer das eigene Selbstwertgefühl sei, desto stärker sei man von der Meinung anderer abhängig. Auch das Geschlecht spiele dabei eine Rolle. „Frauen tendieren eher dazu, sich anzupassen oder auf die Meinung anderer zu hören. Bis heute sind sie tendenziell die, die sich kümmern. Schon beim Spielen im Sandkasten werden Mädchen eher als Jungs dazu aufgefordert, ihr Spielzeug zu teilen. So wird ‚People Pleasing‘ anerzogen“, so Bossmann. Das ist auch historisch gewachsen: „Wählen dürfen Frauen erst seit 1918. In den alten Bundesländern musste der Mann bis in die 1970er Jahre zustimmen, wenn seine Frau arbeiten wollte.“
Nur auf andere zu hören, schadet dem Selbstbewusstsein
Geben wir immer nur nach und vernachlässigen unseren eigenen Willen, verlieren wir unsere eigene Authentizität. „Wer nur die Erwartungen anderer erfüllt, verliert den Kontakt zu sich und seiner eigenen Meinung. Dann wissen die Betroffenen, was andere wollen und brauchen. Aber sie können nicht mehr sagen, was sie selbst wollen, fühlen und brauchen“, erklärt die Psychologin. Das könne dazu führen, dass man die Störgefühle des eigenen Körpers in Bezug auf Entscheidungen nicht mehr wahrnimmt.
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Daraus ergeben sich gleich zwei Gefahren. Zum einen lebe man an sich vorbei und werde unzufriedener, weil man nicht getan hat, was man eigentlich möchte. Da komme auch schon die Frage auf: Wer bin ich eigentlich? Zum anderen könne es passieren, dass man für andere über die eigenen Grenzen geht. „Ein Beispiel dafür ist, wenn eine Tochter sich rund um die Uhr um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmert, obwohl sie zu ihnen ein schwieriges Verhältnis und außerdem eine eigene Familie und einen Job hat. Auf lange Sicht führt das zu Erschöpfung und Burnout, weil sie die Selbstfürsorge vernachlässigt“, so Bossmann.
Damit empathische Menschen nicht vergessen, auf sich selbst zu achten, hat die Psychologin einige Tipps. „Man kann sich vornehmen, an Wochentagen mit M auf andere zu achten und an Tagen mit D auf sich selbst. Das reicht vielen schon, um ein Gleichgewicht zu erreichen“, sagt die Psychologin. Wer lernt, auf seinen Körper zu hören, könne vielleicht nicht sofort sagen, was er will – auf jeden Fall aber, was er nicht will.
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Die eigene Meinung zu sagen, hilft beim Entscheidungen treffen
Auch Entscheidungen zu treffen, kann geübt werden. „Wer nach seiner Meinung gefragt wird, sollte die Gelegenheit nutzen, statt den Moment vorbeiziehen zu lassen. Ich sollte auch etwas sagen, wenn ich es nicht weiß oder es mir egal ist, um die Erfahrung zu gewinnen“, so Bossmann. Sagt man seine Meinung, erfährt man mehr über den Menschen, der man selbst ist und als der man respektiert und angesehen wird.
Direkter Widerspruch jedoch falle empathischen Menschen oft schwer. „Wenn jemand Blumen bekommt, die er nicht mag, sagt er vielleicht ‚Ich freue mich, aber‘. Dieses ‚aber‘ macht das ‚Ich freue mich‘ kaputt“, erklärt die Psychologin. Das Zauberwort ‚und‘ könne dabei helfen, auf Augenhöhe zu widersprechen. „Ich kann sagen ‚Ich freue mich und ich hätte gern andere Blumen‘.“
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Holen Sie sich Rat von der richtigen Person
Wer sich aktiv einen Rat zu einem Thema einholen möchte, sollte sich überlegen, wen er fragt – zum Beispiel bei einem Jobangebot im Ausland. „Die Antwort sagt oft mehr über die eigenen Ängste und Perspektiven der jeweiligen Person. Deswegen muss man für sich selbst einordnen, ob es sich um einen validen Punkt handelt“, empfiehlt die Psychologin. Die Ängste der anderen Person stellen Sie nicht zwingend in gleichem Maße vor ein Problem. Lassen Sie sich also nicht beeinflussen.
Ebenso wichtig sei es, die eigene Entscheidungsfähigkeit zu hinterfragen. „Brauche ich eine Portion Weisheit oder Rückenstärkung? Wenn ich jemand bin, der, ohne nachzudenken, in eine Situation springt, brauche ich eine durchdachte Stimme. Ist es andersherum, ist es vielleicht wichtiger, dass jemand sagt: Du kriegst das schon hin.“
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Bossmann zufolge lohnt es sich, selbstbestimmter zu werden. Wer für seine Meinung einsteht und sich frei von den Erwartungen anderer macht, erhalte mehr Respekt und werde nach Ideen gefragt. Das steigere das eigene Wohlbefinden, Beziehungen seien harmonischer und man komme heraus aus dem Dauerstress.
„Es ist wichtig, zu verstehen, dass es einen Unterschied zwischen gesunder Kompromissbildung und an sich vorbeileben gibt. Selbstbestimmt zu sein, heißt nicht, dass mir egal ist, wie es anderen geht“, verdeutlicht Bossmann. Das Ziel sei ein Gleichgewicht, in dem freie Entscheidungen möglich sind. „Ich würde heute gern nur auf der Couch sitzen. Zugleich braucht meine Freundin mich. Also entscheide ich, dass ihr Bedürfnis wichtiger ist als meines. Nächste Woche entscheide ich zugunsten meines Bedürfnisses. Dann sage ich ab.“