Kiew. Mit Harris hätte sich Kiew wohler gefühlt. Doch insgeheim stellt man sich schon länger auf Trump ein – und rechnet sich neue Optionen aus.

Einen idealen Ausgang hätte es für die Ukraine bei der US-Präsidentschaftswahl sowieso nicht gegeben. Denn auch der Sieg der Demokratin Kamala Harris hätte wohl die grobe Fortsetzung der bisherigen Strategie der Administration von Joe Biden bedeutet. Ohne die US-Unterstützung unter Biden hätte die Ukraine den russischen Überfall mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überlebt. Die vorsichtige Biden-Linie führte jedoch nicht zuletzt zum langen und für die Ukraine wenig vorteilhaften Abnutzungskrieg. Ein „Weiter so“ wäre daher aus Kiewer Perspektive auch nicht optimal gewesen.

Doch obwohl sich die ukrainische Staatsführung mit Blick auf die US-Wahl bewusst neutral zeigte, war unterm Strich klar: Die meisten in der Umgebung von Präsident Wolodymyr Selenskyj hätten sich gewünscht, dass Harris reüssiert. Gleichzeitig hat sich Kiew intensiv auf einen möglichen Sieg Donald Trumps vorbereitet.

So gab es in dem im Herbst vorgestellten sogenannten „Siegesplan“ Selenskyjs eindeutig Aspekte, die auf Trump ausgerichtet waren: etwa die Möglichkeit, dass ukrainische Soldaten die Amerikaner nach dem Krieg auf den NATO-Stützpunkten in Europa ersetzen könnten. Auch hat man verschiedene Kanäle genutzt, um in Kontakt mit dem Trump-Team zu kommen – etwa über den britischen Ex-Premier Boris Johnson oder den Ex-Außenminister Mike Pompeo.

USA: Musk und Vance könnten Trump gegen Ukraine aufbringen

Dass dieser nun keinen Platz in der neuen Administration bekommt, ist nicht nur an sich ein Dämpfer für die Ukraine. Es ist vor allem die allgemeine Personalpolitik Trumps, die das politische Kiew besorgt. Marco Rubio als neuer Außenminister und Mike Waltz als neuer Nationaler Sicherheitsberater, das sind weitere Alarmzeichen. Beide gelten als Skeptiker der derzeitigen US-Politik gegenüber der Ukraine.

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Zudem kursiert in Kiew die Sorge, dass die engste Umgebung von Trump – etwa sein Sohn oder der designierte Vizepräsident J.D. Vance – ihn explizit gegen die Ukraine aufbringen könnte. Auch die Rolle von Elon Musk, der beim Telefonat zwischen Trump und Selenskyj anwesend gewesen sein soll, wird kritisch gesehen.

Ukraine: Trump könnte auch eine Chance bedeuten

Weil aber die Biden-Strategie ohnehin nicht funktionierte, was namhafte Analysten wie Mykola Beleskow vom Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew stets betonen, entsteht für die Ukraine die Frage: Ist die Präsidentschaft von Donald Trump ausschließlich ein enormes Risiko – oder vielleicht auch gar eine Chance? „Es ist beides – und es wird sicher eine neue Dynamik geben“, sagt der prominente Politologe Wolodymyr Fessenko, Vorstandsvorsitzender des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta. Dass Trump einen Versuch unternehmen werde, Friedensverhandlungen voranzutreiben, sei dabei klar.

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„Zu welchem Ergebnis dieser Versuch kommen wird, ist aber eine offene Frage. Vom Frieden binnen 24 Stunden kann keine Rede sein. Es wäre beinahe ein Wunder, wenn der Frieden innerhalb von 24 Wochen zustande kommt“, sagt Fessenko. Für ihn ist klar: Zunächst einmal dürfte die militärische Unterstützung für die Ukraine fortgesetzt werden, um ein Druckmittel gegenüber Moskau zu haben. Es sei aber gut möglich, dass sie zukünftig als Kredit und nicht wie bisher gratis geleistet wird – und auch die Streichung beziehungsweise Kürzung der Finanzhilfen sei sehr wahrscheinlich. Sollte der Gesprächsversuch mit Moskau scheitern, sei es denkbar, dass Trump trotz seiner Politik die militärische Unterstützung für die Ukraine sogar vergrößern könnte. Darauf sicher zu wetten, wäre aber aus ukrainischer Position viel zu riskant.