Berlin. Gesundheitsminister Lauterbach warnt im Interview eindringlich vor einer Corona-Verharmlosung und gibt eine eindeutige Empfehlung.

Die Pandemie ist zu Ende – die Debatte darüber aber ist seit der Veröffentlichung der RKI-Protokolle wieder voll entbrannt. Im Zentrum: die Rolle von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Nach dem Frontalangriff seines FDP-Koalitionskollegen Wolfgang Kubicki warnt Lauterbach dringend davor, Corona im Nachhinein zu verharmlosen – und sagt, was im Winter auf Deutschland zukommt. 

Herr Lauterbach, haben Sie die Pandemie zeitweise gefährlicher dargestellt, als sie tatsächlich war?

Nein. Ich habe die Lage so beschrieben, wie sie sich im Licht der Daten und der Studien gezeigt hat. Die Entscheidungen, die wir getroffen haben, waren im Nachhinein sicher nicht alle richtig – die Schulschließungen zum Beispiel kamen zu früh und endeten zu spät –, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir insgesamt aus gutem Grund vorsichtig gewesen sind. In Deutschland sind weniger Menschen gestorben als in den meisten unserer Nachbarländer, obwohl wir eine sehr alte Bevölkerung haben.

Im Netz kursieren Protokolle des Corona-Krisenstabs beim RKI. Anfang Februar 2022 heißt es dort, dass eine Herabstufung der Risikos möglich sei, aber „politisch nicht gewünscht“. Warum wollten Sie keine Entwarnung geben?

Im Februar 2022 waren wir in einer Phase, in der teilweise noch Hunderte Menschen pro Tag an Corona gestorben sind. In einer solchen Lage kann man nicht das Risiko herabstufen. Die Einstufung basiert im Übrigen immer auf den vorhandenen Daten und den Einschätzungen der Experten des RKI und des Gesundheitsministeriums. Dann wird eine gemeinsame Entscheidung getroffen.

In den Protokollen klingt das anders. Im Eintrag vom 25. Februar 2022 heißt es, dass die Reduzierung des Risikos von sehr hoch auf hoch „vom BMG abgelehnt“ wurde. Die Wissenschaftler des RKI wollten das Risiko herabstufen – und der Minister lehnte das ab? 

Wir sollten keinen künstlichen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Politik konstruieren. Die Wissenschaft liefert Fakten, die Bewertung findet dann im Austausch zwischen den Fachebenen von RKI und des Ministeriums statt. Die politische Verantwortung trägt am Ende immer das Bundesgesundheitsministerium.

Im Frühjahr 2022 wollten sie die gesetzliche Corona-Impfpflicht einführen. Eine Entwarnung hätte da schlecht ins Bild gepasst…

Vorsicht. Sie sind gerade dabei, mit haltlosen Mutmaßungen die Pandemie umzudeuten. Ich warne eindringlich davor, mit Spekulationen, Unterstellungen und Verschwörungstheorien die Vergangenheit zu verzerren. Im dritten Pandemiejahr sind über 50.000 Menschen an Corona gestorben. Das im Nachhinein zu verharmlosen oder zu ignorieren, ist irreführend. Wenn sich damals mehr Menschen geimpft hätten, wären viele schwere Verläufe vermeidbar gewesen. 

FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki wirft Ihnen ein „unverantwortliches Verhältnis zur Wahrheit“ vor – und hat Ihnen den Rücktritt nahegelegt. Haben Sie Fehler gemacht?

Ich kommentiere die Äußerung von Herrn Kubicki nicht.

War es ein Fehler, von der „Pandemie der Ungeimpften“ zu sprechen – wie es ihr Vorgänger Jens Spahn getan hat? „Aus fachlicher Sicht nicht korrekt“, heißt es dazu im RKI-Protokoll.

Der Begriff war von Jens Spahn vermutlich so gemeint, dass Ungeimpfte häufig die schweren Verläufe hatten, die zum Teil zur Überlastung der Intensivstationen führten. Sprachlich ist das nicht optimal formuliert, es entstand der falsche Eindruck, nur Ungeimpfte könnten sich anstecken. 

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Das RKI hat inzwischen die Protokolle bis April 2021 öffentlich gemacht. Warum nicht die Dokumente aus Ihrer Ministerzeit? Wann passiert das?

Das RKI bereitet das gerade vor: Bevor die Protokolle veröffentlicht werden, müssen alle erwähnten Personen einverstanden sein, dass ihr Name sichtbar wird. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Ich dränge darauf, dass die restlichen Protokolle so schnell wie möglich und mit so wenig Schwärzungen wie möglich veröffentlicht werden. Ich war im Übrigen immer dafür, die Protokolle zu veröffentlichen, habe die Veröffentlichung selbst veranlasst.

In der Pandemie ist vieles schief gelaufen: kriminelle Maskendeals, umstrittene Schulschließungen, intransparente Entscheidungen. Wann kommt die Aufarbeitung?

Eine parlamentarische Aufarbeitung ist sicherlich nötig. Dabei muss auch die Arbeit der Regierung bewertet werden. Dafür werde ich dem Parlament keine Vorschläge machen. Was wir allerdings nicht brauchen, ist ein politisches Tribunal. Die Aufarbeitung muss das Ziel haben, das nächste Mal besser auf eine Pandemie vorbereitet zu sein. Für den Wahlkampf von Verschwörungstheoretikern eignet sie sich nicht.

Was waren die drei größten Fehler in der Pandemie?

Wir haben die Kinder nicht ausreichend vor den Folgen von Schulschließungen und Lockdowns geschützt. Das war der zentrale Fehler der Pandemie. Zum zweiten haben wir als Regierung nicht optimal mit der Bevölkerung kommuniziert. Und drittens war die Art, wie Wissenschaft und Politik zusammenarbeiten, zu Beginn oft undurchsichtig.

Das Corona-Virus ist noch nicht verschwunden. Was erwarten Sie für Herbst und Winter?

Wir werden wieder sehr viele Infektionen haben. Eine Bedrohung bleibt Corona aber vor allem für Ältere und Risikopatienten. Zusammen machen sie immerhin ein Viertel der Bevölkerung aus. Ich empfehle deswegen allen in dieser Gruppe eine Auffrischungsimpfung. Eine Ausnahme sind diejenigen, die dieses Jahr schon einmal Corona hatten.

Wie viele Impfdosen hat der Bund bestellt?

Es wird in diesem Herbst und Winter voraussichtlich zwei angepasste Impfstoffe geben. Insgesamt haben wir 15 Millionen Impfdosen bestellt. Die ersten Impfdosen kommen bereits in dieser Woche in die Arztpraxen. Ich gehe davon aus, dass wir mit der Menge gut auskommen. Sollte die Nachfrage größer sein, können wir jederzeit nachbestellen.

Warum zwei Impfstoffe?

Der von der Firma BioNTech zunächst gelieferte Impfstoff ist an die aktuell bei uns vorherrschende Variante JN.1 angepasst – davon haben wir in der ersten Tranche sechs Millionen Dosen bestellt. Ob wir im Laufe des Winters einen weiteren Impfstoff benötigen, der an eine in den USA verbreitete Variante angepasst werden muss, ist noch offen. Auch dann wären wir vorbereitet. Zudem gibt es auch in diesem Winter wieder Protein-Impfstoffe für Menschen, die keinen mRNA-Impfstoff nehmen wollen.

Virologen warnen vor der Ausbreitung des Vogelgrippe-Virus H5N1. In den USA haben sich bereits Menschen an Kühen angesteckt. Wie groß ist die Gefahr, dass sich eine neue Pandemie entwickelt?

Die Gefahr einer Pandemie mit dem Vogelgrippe-Virus ist zum jetzigen Zeitpunkt gering. Die Übertragung geschieht nicht durch die Luft, außerdem verändert sich das Virus bislang nicht so stark. Langfristig aber gibt es eine schlechte Nachricht: Das Virus hat sich weltweit festgesetzt. Wir müssen es also gut beobachten. Gefährlich wird es, wenn sich die hohe Sterblichkeit des Vogelgrippe-Virus mit der rasanten Übertragbarkeit des menschlichen Grippe-Virus durch Mutationen kombinieren würde.

Die Lage in der Pflege ist seit der Corona-Pandemie nicht besser geworden. Im Gegenteil: Explodierende Kosten, wachsende Eigenanteile, steigende Beiträge. Was schlagen Sie vor?

Ein zentrales Problem sind die hohen Kosten für einen Pflegeplatz: Viele Ältere haben Angst davor, ins Pflegeheim zu müssen, weil die Eigenanteile aktuell je nach Bundesland zwischen 2600 Euro und 3300 Euro liegen. Wenn wir nichts dagegen machen, kommen wir in ein paar Jahren auf Eigenanteile von 4000 Euro pro Monat. Es darf nicht sein, dass sich Menschen im Rentenalter Sorgen machen müssen, ob das Geld für die Pflege reicht. Das ist unwürdig.

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Die Eigenanteile sind nicht das einzige Problem…

Nein. Deshalb werden wir die Prävention, die Pflege zu Hause und die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte verbessern. Dafür sind mehrere Gesetze in Arbeit. Pflegekräfte sollen mehr Entscheidungsbefugnisse bekommen, wir werden mehr Pflegekräfte aus dem Ausland anerkennen, mehr Interessierte zu Pflegeassistenten ausbilden und Pflege in den eigenen vier Wänden bis zum Lebensende möglich machen. Klar ist aber unabhängig davon: Es wird nicht möglich sein, die Pflege auf dem jetzigen Niveau zu halten, ohne mehr Geld in die Hand zu nehmen. Ich werde dazu nach der Sommerpause einen Vorschlag machen. 

Hoffen Sie auf mehr Geld von Finanzminister Christian Lindner?

Ich gehöre zu den Leuten, die mit Christian Lindner ganz gut klarkommen. Auch deshalb, weil wir uns nicht öffentlich kritisieren oder öffentlich Forderungen an uns stellen.