Berlin. Die ungeschwärzten Protokolle des Corona-Krisenstabs wurden geleakt. Eine Aussage von Jens Spahn wird seitdem heiß diskutiert. Zurecht?
- Die ungeschwärzten RKI-Protokolle erstrecken sich über die Corona-Jahre von 2020 bis 2023
- Kritiker der früheren Corona-Politik sehen sich bestätigt, dass Spahn damals in einem Punkt nicht die Wahrheit gesagt habe
- Gab es damals eine „Pandemie der Ungeimpften“? Experten ordnen die Spahn-Aussage ein
Die Debatte über die sogenannten RKI-Protokolle, auch RKI-Files genannt, ist neu entfacht worden. Am Dienstag veröffentlichte die Berliner Journalistin Aya Velázquez einen Datensatz, der sämtliche Sitzungsprotokolle des Covid-19-Krisenstabs während der Corona-Pandemie zwischen 2020 und 2023 umfassen soll.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) teilte dazu mit, die Protokolle weder geprüft noch verifiziert zu haben. In einer Stellungnahme heißt es weiter: „Soweit in diesen Datensätzen personenbezogene Daten und Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter rechtswidrig veröffentlicht und insbesondere Rechte Dritter verletzt werden, missbilligt das RKI dies ausdrücklich.“
Whistleblower soll RKI-Files weitergegeben haben
Velázquez gehört zu einer Gruppe, die die Maßnahmen während der Corona-Pandemie bereits in der Vergangenheit scharf kritisiert hat. Auf X schrieb sie, die Daten seien von einem Whistleblower, einem ehemaligen Mitarbeiter oder einer ehemaligen Mitarbeiterin des RKI, zur Verfügung gestellt worden.
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In den ersten Stunden nach der Veröffentlichung sorgte vor allem eine Stelle für Aufregung in den sozialen Netzwerken. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn hatte am 3. November 2021 öffentlich von einer „Pandemie der Ungeimpften“ gesprochen und damit die mangelnde Impfbereitschaft in Teilen der Bevölkerung kritisiert, worin er die Ursache sah, dass Corona-Maßnahmen aufrechterhalten werden mussten. Er war nicht der Erste, der diese Formulierung benutzte und auch nicht der Letzte. Andere Politiker wie Markus Söder taten dies ebefalls.
RKI-Protokoll: Experten teilen Spahns Einschätzung nicht
In einer Sitzung des Krisenstabs zwei Tage später wurde laut den Dokumenten die Aussage des Ministers thematisiert. In dem Protokoll heißt es: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“ Weiter heißt es dann in dem Protokoll, dass der „Minister“, womit Spahn gemeint sein dürfte, die Formulierung in all seinen Pressekonferenzen verwende und es daher „eher nicht“ korrigiert werden könne.
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Kritiker der Maßnahmen von damals sehen diese Stelle nun als Beleg dafür, dass das RKI gewusst habe, dass Spahn nicht die Wahrheit sage, und dies bewusst verschwiegen habe.
Fakt ist aber auch: Tatsächlich war ein Großteil der Corona-Infektionen damals auf Ungeimpfte zurückzuführen, aber eben nicht ausschließlich. Gerade auch bei nur einmalig Geimpften kam es zu Impfdurchbrüchen, wobei die Impfung nicht nur vor einer Ansteckung, sondern auch vor schweren Krankheitsverlaufen schützen sollte.
Virologe zu Aussage von damals: „Gab einen fundierten Hintergrund“
An einer anderen Stelle im Protokoll heißt es dementsprechend auch: „In der Kommunikation sollte aufgepasst werden, wie kritisch man über den Impfstoff kommunizieren will, immerhin nach einem halben Jahr immer noch >90% Wirksamkeit. Wenn 95% geimpft wären, sähe die Situation anders aus.“
Zudem gab es öffentlich sehr wohl Widerspruch. So sagte zum Beispiel der Berliner Virologe Christian Drosten in einem „Zeit“-Interview: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften. Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen - auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.“
Der Virologe Martin Stürmer hält die Formulierung „Pandemie der Ungeimpften“ aus heutiger Sicht für unglücklich, jedoch nicht für völlig aus der Luft gegriffen. „Die Formulierung ist eine vereinfachte Darstellung der Situation, dass sich hauptsächlich Ungeimpfte angesteckt haben und dass es hauptsächlich Ungeimpfte waren, die auch die schweren Verläufe hatten. Insofern ist es jetzt nicht so, dass das komplett aus dem Nichts erfunden wurde. Es gab einen fundierten Hintergrund“, so Stürmer gegenüber tagesschau.de.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach nimmt seinen Vorgänger in Schutz. „Spahn hat wohl gemeint, dass sich zwar auch Geimpfte infizieren könnten, das war ja bekannt und wurde auch von ihm nicht bestritten. Es waren allerdings überwiegend Ungeimpfte, die mit schweren Verläufen auf die Intensivstation mussten“, teilte er gegenüber dem „Spiegel“ mit.
Lauterbach gibt sich gelassen – Kubicki widerspricht
Lauterbach hatte in einer ersten Reaktion gelassen auf die Veröffentlichung der Protokolle reagiert. „Das RKI hatte ohnedies vor, mit meiner Zustimmung, die RKI-Files des Corona-Krisenstabs zu veröffentlichen. Jetzt geschieht es, ohne dass die Rechte Dritter, auch Mitarbeiter, vorher geschützt worden wären. Zu verbergen gibt es trotzdem nichts.“
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Kritik kam prompt von FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der bei X direkt auf Lauterbachs Nachricht antwortete: „Als „Dritter“, dessen Name in den Protokollen auftaucht, kann ich sagen, dass ich keine Anfrage hinsichtlich einer ungeschwärzten Veröffentlichung bekommen habe. Ich darf daher meinen Zweifel an dem Willen zur zügigen und umfassenden Veröffentlichung anmelden.“
Debatte über RKI-Files dauert seit Monaten an
Die Debatte über die RKI-Protokolle zieht sich seit Monaten hin. Da einige Stellen in den veröffentlichten Dokumenten geschwärzt worden waren, vermuteten Kritiker der damaligen Maßnahmen, die zum Teil auch Kreisen von Verschwörungstheoretikern zuzuordnen sind, dass wichtige Aussagen verheimlicht werden sollten.
Das RKI hatte daraufhin Ende Mai die Sitzungsprotokolle des Covid-19-Krisenstabs von Januar 2020 bis April 2021 weitestgehend ungeschwärzt veröffentlicht. „In dieser veröffentlichten Fassung sind nur noch personenbezogene Daten nach § 5 Informationsfreiheitsgesetz (IFG) sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter nach § 6 IFG geschwärzt“, erklärte das RKI dazu. Die restlichen Protokolle bis Juli 2023 sollten nach „entsprechender Prüfung“ ebenfalls „so schnell wie möglich“ veröffentlicht werden.
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