Kiew. Der Ukraine fehlt es an Munition – und das noch mindestens sechs Monate, sagt ein Militäranalyst. Er glaubt, dass Kiew nun umsteuert.

Die Lage im Krieg in der Ukraine ist verfahren: Russland versucht weiterhin, schrittweise bei Awdijiwka im Bezirk Donezk und bei Kupjansk in der Region Charkiw voranzukommen. Strategische Erfolge erzielt die russische Armee dabei bislang nicht. Gleichzeitig wird erwartet, dass die Munitionsproduktion im Westen und in der Ukraine selbst erst gegen Ende des Jahres das Niveau erreicht, bei dem neue Offensiven der Ukrainer möglich wären. Wie kann es bis dahin weitergehen?

Kiew muss sich vorerst auf eine aktive Verteidigung umstellen, was bereits seit einiger Zeit geschieht. „Das erste Halbjahr 2024 wird am schwierigsten sein“, sagte der renommierte Militäranalyst und Veteran des Donbass-Krieges, Anton Murawejnyk, der die analytische Abteilung der ukrainischen Come Back Alive Foundation leitet. Diese liefert auch Analysen an die Kiewer Militärführung.

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„Wir müssen jetzt tatsächlich in die Defensive gehen und verhindern, dass der Feind Erfolg hat“, sagte Murawejnyk in einem Gespräch mit der Online-Zeitung „Ukrajinska Prawda“. „Zur Defensive zu wechseln bedeutet jedoch, auf Konter und Gegenangriffe zu verzichten.“ Vielmehr gehe es um aktive Verteidigung. Man müsse vor allem „die Front halten, Reformen durchführen und die Mobilmachung optimieren“. Der Analyst weiter: „Der Schwerpunkt sollte auf der Ausbildung der Menschen liegen.“

Selenskyj will neues Mobilisierungsgesetz einbringen

Wie kann die Mobilmachung verbessert werden? Über diese Frage streitet das Land im Moment am meisten. Demnächst wird die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj den Entwurf für ein neues Mobilisierungsgesetz beim Parlament einreichen. Das Gesetz soll die Nachteile des immer noch stark sowjetisch geprägten Systems teilweise beheben. Was genau darin stehen wird, ist aber derzeit unklar.

In der Nähe der Front tut sich aber schon einiges. Aktuell werden massive Verteidigungsstellungen gebaut. Die britische Zeitung „The Telegraph“ bezeichnete die neuen Verteidigungslinien der Ukrainer kürzlich als „ukrainische Surowikin-Linie“. Der russische General Sergej Surowikin war kurzzeitig Kommandeur des russischen Angriffs gegen die Ukraine und gilt als Architekt der russischen Verteidigung im Süden des Landes. Die Ukrainer errichten zunächst Minenfelder, auf die ganze Netzwerke von Schützengräben und befestigten Kommandozentralen folgen.

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Ukraine: Auch die „Drachenzähne“ kommen zum Einsatz

Ähnlich wie von Russland werden auch die sogenannten „Drachenzähne“ eingesetzt: Reihen von Blöcken in Form von Pyramiden, die Bewegungen von Panzern und anderer Militärtechnik einschränken sollen. Die „Drachenzähne“ bestehen meist aus Stahlbeton. In den Gebieten, wo die Front statisch ist, befinden sich zudem große ukrainische Befestigungsanlagen etwa einen Kilometer voneinander entfernt. Die Ukrainer richten ihren Fokus auf Anlagen nahe der umkämpften Städte Awdijiwka und Kupjansk.

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In Awdijiwka gibt es kaum noch unbeschädigte Gebäude. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Stadt irgendwann von den ukrainischen Streitkräften aufgegeben wird. Daher wird die Hauptverteidigungslinie etwa 16 Kilometer westlich von Awdijiwka aufgebaut, wo die Ukrainer auch natürliche Barrieren wie Flüsse und Seen nutzen möchten. Eine weitere Linie befindet sich nordwestlich um die Stadt Pokrowsk, die die Russen einnehmen müssten, um die gesamte Region Donezk unter Kontrolle zu bringen. In Pokrowsk gibt es daher ein zweistufiges Schützengrabensystem, das sich durch die gesamte Stadt zieht.

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Krieg in der Ukraine: Analyst bewertet die Lage nüchtern

Im Norden der Ukraine, wo derzeit keine Kämpfe stattfinden, wurde indes eine massive Verteidigungslinie im Bezirk Tschernihiw aufgebaut, der sowohl an Russland als auch an Belarus grenzt. Im Februar 2022 hatten die russischen Angreifer den Bezirk auf dem Weg nach Kiew durchquert. Ein neuer russischer Versuch, die ukrainische Hauptstadt zu besetzen, ist derzeit eher unwahrscheinlich – auszuschließen ist es aber nicht. Die Aktivitäten in Tschernihiw zeigen, dass Kiew auch dort verstärkt auf Verteidigung setzt.

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Im Donbass kann sich die Ukraine solch komplexe Befestigungsanlagen aber nicht erlauben, weil ihre Strategie der aktiven Verteidigung vorsieht, Defensive mit kleineren Angriffsoperationen zu kombinieren. Die blitzschnelle Gegenoffensive im Bezirk Charkiw im September 2022 zeigte, wie erfolgreich die Ukraine damit sein kann. Allerdings dürfte die Strategie auch der Tatsache geschuldet sein, dass für größere Angriffe schlicht die Munition in entsprechender Menge fehlt.

Militäranalyst Murawejnyk betrachtet die Lage nüchtern. „Vorerst wird es generell so aussehen: Wir sind in der Defensive, der Feind hat die Initiative und wir wehren uns. Der militärische Erfolg wird aktuell am Erhalt von Territorien gemessen“, betonte er. Für die nächsten sechs Monate sehe er allerdings keine Optionen für bedeutende Rückeroberungen.