Jerusalem. Die Hamas hat am Freitag eine erste Gruppe Geiseln freigelassen – Angehörige trauten sich bis zuletzt nicht, optimistisch zu sein.
Carmel Idan bekam die Nachricht, aber glauben konnte er sie nicht. Der Großvater der kleinen Avigail, die am 7. Oktober im Alter von drei Jahren von Hamas-Terroristen verschleppt wurde, hatte am Tag davor zwar verstanden, dass Avigail am Freitag unter den befreiten Geiseln sein könnte. „Aber ich bleibe pessimistisch“, sagt er. „Sobald ich anfange, optimistisch zu denken, drehe ich durch.“
Nichts zu hoffen wagen: Das ist eine der vielen Strategien, die sich die Angehörigen der Verschleppten zurechtgelegt haben, um zu überleben und nicht aufzugeben. Andere hielten sich am Gedanken fest, dass man sich eines Tages wieder in den Armen liegen würde. Was alle vereint: Sie kämpften lautstark dafür, dass Israels Regierung die Befreiung der Geiseln an die Spitze ihrer Agenda rückt. Und sie hatten Erfolg.
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Israel: Soldaten und Psychologen nahmen die ersten befreiten Geiseln entgegen
Am Freitag um 16 Uhr wurden die ersten dreizehn befreiten Geiseln vom Krankenhaus in Khan Younis im Süden des Gazastreifens zum Grenzübergang Rafah gebracht. Dort warteten israelische Soldaten, begleitet von Psychologen, um die Kinder und Frauen zu empfangen. Im Gepäck: Spielzeug und Ohrschützer in Pink und Blau, für den Helikopterflug zu den sechs Krankenhäusern, in denen die Freigelassenen in den nächsten Tagen, teils vielleicht auch Monaten, versorgt werden.
Der Tag ihrer Freilassung nach 49 Tagen Geiselhaft war Avigails vierter Geburtstag. Als die Hamas-Terroristen am Morgen des 7. Oktober Kfar Aza überfielen, das Dorf nahe der Gazagrenze, in dem Avigail mit ihren Eltern und zwei Geschwistern lebte, war Avigails Mutter Smadar das erste Familienmitglied, das erschossen wurde. Avigail rettete sich zu den Nachbarn, einer Mutter mit drei Kindern. Ihre Geschwister Michael und Amalya hielten sich 14 Stunden lang in einem Schrank versteckt, bis Ersthelfer sie befreiten, und ihnen die Horrornachricht übermittelten: Beide Eltern waren ermordet, die kleine Avigail – mitsamt den Nachbarn – nach Gaza verschleppt worden.
„Avigail weiß nicht, dass sie Waise ist“, sagt ihr Großvater Carmel. Sie weiß auch nicht, dass es das Dorf, das ihr Zuhause ist, so nicht mehr gibt, dass viele Nachbarn ermordet wurden. Es wird an den Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen liegen, es ihr beizubringen. Und zwar bald, so betont Sarit Sarfatti, eine der Leiterinnen des Sozialarbeiter-Teams im Sozialministerium. „Wir sollten es ihnen rasch erzählen, weil wir nicht wollen, dass sie es aus Gerüchten erfahren müssen“, sagt Sarfatti.
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Start der Waffenruhe zwischen Israel und Hamas verlief holprig
Freigelassen wurden am Freitag auch zwölf thailändische Staatsangehörige, die im Süden Israels als Erntearbeiter tätig waren und am 7. Oktober verschleppt worden waren. Sie sollen nach einer Erstversorgung nach Thailand überstellt werden. Israel hatte zuvor betont, dass jede freigelassene Geisel, die keine israelische Staatsbürgerschaft hat, das Kontingent der 50 zu befreienden Geiseln nicht reduziert. Dass die zwölf Thailänder freikamen, ändert also nichts an der Verpflichtung der Hamas, in den nächsten drei Tagen weitere 37 Geiseln zu übergeben. Die Freilassung der Arbeitsmigranten dürfte diplomatischem Druck aus Thailand zu verdanken sein.
Ob in den nächsten Tagen alles so laufen wird wie vereinbart, ist alles andere als gewiss, zumal es nicht einmal über die Frage, was denn nun konkret vereinbart wurde, hundertprozentige Einigkeit zwischen den Konfliktparteien geben dürfte. So verlief schon der Start holprig: Statt Donnerstagmorgen begann die Waffenruhe erst Freitagmorgen. Dem Vernehmen nach lag es an Differenzen über die Frage, ob der Deal von der Hamas noch unterzeichnet werden muss oder nicht, aber auch an weiteren „technischen Details“, wie ein US-Sprecher sagte.
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Israel und Hamas: Noch nicht alle Punkte des Deals sicher
Als die Waffenpause Freitag um sieben Uhr in Kraft trat, war es 15 Minuten später schon wieder vorbei mit der Ruhe: Um 7.15 heulten im Süden Israels die Sirenen. Israel hofft, in den nächsten vier Tagen wie versprochen 50 Geiseln entgegennehmen zu können. Im Gegenzug werden 150 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen.
Ein anderer Punkt des Deals, das Besuchsrecht des Roten Kreuzes bei den in Gaza verbleibenden Geiseln, scheint nun doch nicht fix zu sein. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Mittwoch angekündigt, dass dieses Besuchsrecht im Deal verankert wurde. Im Roten Kreuz hieß es aber auf Medienanfrage, dass man davon nichts wisse – und Quellen der Hamas erklärten am Freitag, sie fühlten sich an diesen Punkt nicht gebunden.
An einer Front gehen die Kämpfe weiter
Aus Gaza drangen am Freitagmorgen Bilder von Menschenmassen, die die Waffenruhe nutzten, um sich aus den Notquartieren im Süden zurück in ihr Zuhause im Norden aufzumachen. Laut Hamas war es Teil des Deals, dass den Menschen in Gaza freie Bewegung entlang der Nord-Süd-Route gewährt wird. Israels Streitkräfte warfen am Freitag jedoch Flugblätter ab, in denen die Menschen vor einer Rückkehr in den Norden gewarnt werden, weil es sich um eine Kampfzone handle.
Ob sich wiederum Israel nun auch gegenüber den Terrorgruppen im Libanon an die Waffenruhe gebunden fühlt, konnte ein Armeesprecher am Donnerstag nicht beantworten. An einer Front geht der Kampf dezidiert weiter: In Katari, wo sich die Köpfe der Hamas wie etwa Ismail Haniyeh oder Khaled Mashal aufhalten. Was sie betrifft, „fühlen wir uns zu nichts verpflichtet“, sagte Netanjahu. Die Regierung habe den Auslandsgeheimdienst Mossad beauftragt, „gegen die Köpfe der Hamas vorzugehen, wo immer sie auch sind“.