Jerusalem. Israel ringt sich trotz Bedenken zu einer Übereinkunft mit der Hamas durch. Die Armee will das Wissen der Verschleppten gezielt nutzen.
Am Ende stimmten nur drei Minister dagegen: Nach einer mehrstündigen Debatte hat Israels Regierung der Übereinkunft mit der Hamas ihren Segen gegeben. Ab Donnerstag sollen binnen vier Tagen 50 der 240 Geiseln freigelassen und nach Israel überstellt werden. Im Gegenzug werden mindestens 140 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen befreit. Israel willigte zudem ein, mehrere Hundert Lkw-Ladungen an Hilfslieferungen für die notleidende Bevölkerung in Gaza zuzulassen, darunter auch Treibstoff für die Wasseraufbereitung und andere zivile Zwecke.
Mehr zum Thema:Aktuelles zum Gaza-Krieg finden Sie in unserem Israel-Newsblog
Leicht war es den Teilnehmern der Regierungssitzung, die erst in den frühen Morgenstunden zu Ende war, wohl nicht gefallen, ihren Daumen zu heben. Die Tatsache, dass nicht alle Kinder aus der Gewalt der Hamas befreit werden, ist der größte Makel des Deals. Mehr war aber auch nach wochenlangen Verhandlungen nicht zu erreichen. Am Ende überwog die Erkenntnis, dass es wohl besser ist, diesen Deal zu unterzeichnen als gar keinen.
- Gerichtsurteil: Paukenschlag in Israel – Ultraorthodoxe müssen zur Armee
- Verletzter Verdächtiger: Palästinenser auf Motorhaube gebunden – Empörung über Israels Militär
- Regierung unter Druck? Massenproteste in Israel – größte Demo seit Monaten
- Islamisten: Stärkste Angriffe seit Kriegsbeginn – Hisbollah beschießt Israel
- Nach Rettung: Geisel Noa Argamani befreit – Das war ihr erster Wunsch
Bald nach der Abstimmung veröffentlichte die Justiz eine Liste mit den Namen von 300 palästinensischen Häftlingen, die für eine Freilassung infrage kommen. Mindestens 120 von ihnen sind Minderjährige, die vor allem wegen Steinwürfen inhaftiert worden waren, aber auch rund 15 wegen Mordversuchs Verurteilte finden sich darunter. Angehörige von Terroropfern hatten dann die Möglichkeit, Einspruch zu erheben, mindestens zwei machten davon auch Gebrauch. Donnerstagvormittag muss Israels Höchstgericht über ihre Einsprüche entscheiden – dass ihnen stattgegeben wird, ist jedoch unwahrscheinlich. Damit könnten die ersten Geiseln schon Donnerstagmorgen überstellt werden.
Israel: Gleich nach Ende der Waffenruhe will die Armee die Kämpfe wieder aufnehmen
Die Geiseln sollen ans Rote Kreuz übergeben, über den Grenzübergang Rafah aus dem Gazastreifen hinausgebracht und nach Israel überstellt werden. Dort werden sie auf verschiedene Krankenhäuser aufgeteilt, wo sie erstmals wieder ihre Familien treffen können. Jeder befreiten Geisel wird ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin zugeteilt, die auch in den nächsten Wochen als persönliche Betreuungsperson zur Verfügung stehen wird. Nach einer ersten Phase der Stabilisierung werden sich die Geiseln Interviews mit Ermittlern des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet stellen müssen. Die Informationen, die dabei ans Licht kommen, sollen bei der Befreiung weiterer Geiseln helfen, aber auch Insiderwissen über die Hamas offenlegen.
Noch mehr von diesem Insiderwissen erhofft sich die Armee von der Befragung von Hamas-Kämpfern, die sich im Norden Gazas ergeben haben. Die Tage der Waffenruhe sollen auch genutzt werden, um mehr Informationen zu erlangen und die Daten auszuwerten. Dieses Wissen soll dann bei der nächsten Etappe, der Bodenoffensive im Süden Gazas, von Nutzen sein. Wann diese Etappe beginnt, ist unklar – Militärexperte Yaakov Amidror geht davon aus, dass die Nordetappe nach rund zehn Kampftagen abgeschlossen sein wird.
Die Armee hatte angekündigt, sofort nach dem Ende der Waffenruhe ihren Kampf gegen die Hamas wieder aufzunehmen. Sie zerstreut damit Hoffnungen auf eine länger andauernde Waffenpause. Wie lange die im Deal verankerte Waffenruhe tatsächlich dauert, ist ungewiss. Dem Wortlaut nach sind es vier Tage. Die Hamas verlangt die Einstellung „jeder militärischen Aktivität“ seitens Israels. Die israelische Armee hat jedoch klargemacht, dass bei jedem Anschein einer Bedrohung für die Soldaten geschossen werden wird. Es ist also durchaus möglich, dass die Waffenruhe vorzeitig gebrochen – oder als gebrochen erachtet – wird.
Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass die Waffenruhe länger als vier Tage andauert: Sollte die Hamas über die vereinbarten 50 Geiseln noch weitere Gekidnappte freilassen, ist Israel zur Verlängerung bereit. Für jede Tranche von weiteren zehn Freigelassenen würde Israel um einen Tag verlängern, müsste dafür allerdings auch 30 weitere palästinensische Gefangene freilassen.
Waffenruhe: Die Kämpfe sollen maximal zehn Tage unterbrochen werden
Eine unbeschränkte Ausweitung der Waffenruhe ist aber nicht in Sicht. Die Obergrenze liegt laut Regierungsbeschluss bei zehn Tagen. Sollte das Kriegskabinett – was eher unwahrscheinlich ist – die Waffenruhe auf einen längeren Zeitraum ausdehnen wollen, braucht es dafür einen weiteren Beschluss der Regierung.
- Masalaerklärt den Taurus-Plan: „Pilot in größerer Gefahr“
- Ausbildungstatt Hörsaal: „Ich wusste: Ich packe das nicht“
- Interview: Wissing warnt vor „Zwangsuntersungen“ für Senioren
- Geothermie:Wann lohnt sich das Heizen mit der Energie der Erde?
- Kinderpornos im Klassenchat:Was Eltern jetzt wissen müssen
Zur Identität der freizulassenden Geiseln ist bisher vieles unklar. Es handelt sich um 50 Kinder und Frauen, alle von ihnen sind israelische Staatsbürger oder Doppelstaatsbürger mit israelischem Pass. Die gekidnappten Gastarbeiter, darunter auch eine junge Frau, die in Hamas-Gefangenschaft ihr Baby zur Welt gebracht hat, sind nicht Teil des Deals.
Die Hamas kündigte an, die Waffen am Donnerstag um 10 Uhr Ortszeit niederzulegen, und auch die Hisbollah-Milizen im Libanon wollen sich der Feuerpause anschließen. Erst wenn die erste Geisel überstellt worden ist, wird auch Israel mit der Freilassung der Gefangenen beginnen und die Einfuhr von Treibstoff nach Gaza erlauben.
Für die israelische Armee ist die Waffenpause ein Rückschlag, aber einer, den man dem Geiseldeal zuliebe in Kauf nimmt. „Ja, es ist eine Erpressung“, sagt Militärexperte Amidror. Das sei aber genau der Punkt, in dem sich Israel von der Hamas unterscheide: „Wir kümmern uns um unsere Zivilisten, und dafür sind wir bereit, uns notfalls auch erpressen zu lassen.“