Tel Aviv. Über 240 Israelis wurden von der Hamas entführt. Die Angehörigen der Opfer sind verzweifelt – und wütend. Sie wollen Hilfe vom Westen.
Eigentlich ist Lion Yanai ein introvertierter Mensch. In den vergangenen Wochen stand der 46-jährige Programmierer aber öfter live auf CNN Rede und Antwort als so mancher Kongressabgeordneter der USA. „Ich bin es nicht gewöhnt, so viel mit Menschen zu sprechen“, sagt er und lacht. Es ist ein seltenes Lachen in diesen Tagen. Am 7. Oktober wurde Lions Schwester Moran auf dem Ravefestival Nova im Süden Israels von Terroristen in den Gazastreifen verschleppt. Nun wartet Lion bereits vier Wochen darauf, „dass die Welt etwas unternimmt“.
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Deshalb gibt er Tag und Nacht Interviews. „Es ist das einzige, was ich für meine Schwester tun kann.“ Zwar demonstriere er auch in Israel und fordere die Regierung auf, die Geiseln zu befreien, sagt Yanai. „Ich kann mich aber nicht darauf verlassen, dass die israelische Regierung etwas unternimmt, also spreche ich so viel wie möglich mit dem Ausland.“ Seine Botschaft: „Ich will der Welt sagen, dass das uns alle betrifft. Das ist nicht einfach nur ein israelisch-palästinensisches Problem. Das könnte auch in eurem Hinterhof passieren.“
Geiseln der Hamas: 242 Menschen verschleppt
Yanai ist einer von Hunderten Angehörigen, die für die Rückführung ihrer Kinder, Eltern, Großeltern und Geschwister aus dem Gazastreifen kämpfen. Laut Angaben der israelischen Streitkräfte haben die Angreifer der Hamas und anderer Terrorgruppen 242 Personen verschleppt, darunter auch Babys. Wie viele von ihnen noch am Leben sind, ist ungewiss. In den vergangenen Wochen wurden nur vier der Gekidnappten ans Rote Kreuz übergeben, sie konnten den Gazastreifen verlassen. Eine israelische Soldatin, die 19-jährige Ora Megidish, konnte von der Armee befreit werden. Von den übrigen Geiseln fehlt weiter jede Spur. Drohnen der US-Luftwaffe sollen nun helfen, die Verschleppten aufzuspüren.
Die Angehörigen sind vier Wochen nach dem brutalen Überfall aber nicht nur verzweifelt, sondern auch wütend. Dutzende von ihnen blockierten am Freitag eine Straße in Tel Aviv und belagerten einen der Eingänge zur Kyria, dem Hauptquartier der Armee. Die Familien kündigten an, den Eingang nicht zu verlassen, solange Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht öffentlich verkünde, dass es keinen Waffenstillstand gibt, solange nicht alle Geiseln befreit sind.
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Es sind aber nicht alle Angehörigen, die so denken. Unter den Familien gibt es auch Befürworter eines Waffenstillstands und eines umfassenden Gefangenenaustauschs mit der Hamas. Sie sind aber eine kleine Minderheit. Lion weiß nicht, welche Strategie er für besser hält. „Die Tatsache, dass meine Schwester gekidnappt wurde, macht mich weder zum Militärstrategen noch zum Politiker.“
Entführte Israelis: Enttäuschung über den Westen
Unter manchen der Angehörigen macht sich Enttäuschung über die Reaktionen im Westen breit. „Ich hätte mir von der internationalen Gemeinschaft mehr erwartet“, sagt Shaked Haran, die um das Schicksal von sieben Familienmitgliedern bangt – darunter ihre Mutter, ihre Schwester, der achtjährige Neffe und die dreijährige Nichte.
Nicht einmal zum „Offensichtlichsten“, nämlich einer klare Distanzierung von der Hamas, habe sich der Westen durchgerungen, meint Haran. „Immer noch gibt es in der Welt Kräfte, die so tun, als vertrete die Hamas etwas, das man rechtfertigen kann. Aber das ist keine ‚Free Palestine‘-Organisation, im Gegenteil.“
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Am schwersten zu ertragen sei das Gefühl, „dass sich die Welt immer weniger für uns interessiert“, sagt Haran. „Vor einem Monat hätte ich gesagt: Ich bin sicher, je länger die Geiseln dort sind, desto größer wird der Druck sein, dass sie freigelassen werden. Heute merke ich: Das Gegenteil ist der Fall.“
Viele Opfer des Hamas-Terrors noch nicht identifiziert
Die 34-Jährige Juristin ist im neunten Monat schwanger. Der Schock, als sie erfuhr, dass zehn Familienmitglieder nach dem 7. Oktober vermisst waren, ließ sie kaum essen und schlafen, und das wiederum löste in ihr Ängste um ihr Baby aus. Anfang dieser Woche erhielt sie die Nachricht, dass ihr Vater nicht in Gaza war: Er war einer der vielen Bewohner des Kibbutz Be‘eri, die im Zuge des Massakers ermordet worden waren.
Immer noch sind nicht alle Leichen identifiziert, die nach den Massakern geborgen wurden. „Es war eine niederschmetternde Nachricht“, sagt Haran, die zuvor auch vom Tod des Onkels und dessen Pflegers informiert worden war. „Wir hatten ja gehofft, dass sie noch am Leben seien.“
Angst um die Familie: Wenn jeder Tag zur Folter wird
Das Trauern um ihren Vater ist überschattet von der Angst um den Rest der Familie, der noch in Gaza ist. „Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir sie lebend wiedersehen werden.“ Jeder Tag, der vergeht, sei eine einzige Folter. „Diese Angst, das ständige Fragen: Tue ich genug, gibt es irgendwas, was ich noch unternehmen könnte? Und dann schaue ich die Fernsehnachrichten und sehe: Der Fokus liegt ganz woanders.“ Wie sich europäische Staaten nun verhalten sollten? „Der Druck auf die Hamas sollte viel größer sein.“
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Die Terrororganisation reagiere ja durchaus empfindlich auf Drohungen. „Wir wissen, dass das einer ihrer Schwachpunkte ist – diese starke Abhängigkeit von Finanzen aus dem Ausland. Wenn sie diese Unterstützung verlieren, wird das Einfluss auf ihr Verhalten haben.“ Nicht, dass sich Haran erhofft, dass dann sofort alle Geiseln auf einen Schlag freigelassen werden. „Es wäre schon etwas, wenigstens ein Minimum an Information zu bekommen“, sagt die zweifache Mutter: „Zu wissen, wer von ihnen noch am Leben ist und wer nicht.“
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