Asheklon. Jäh holt der Krieg zwei Palästinenser aus Deutschland auf Besuch in der alten Heimat im Gazastreifen ein. Es folgen Tage des Bangens.

Gegen 13 Uhr Ortszeit verwandelt sich die Hoffnung am Samstag in Verzweiflung. „Neuen Informationen zufolge ist es aktuell unklar, ob der Grenzübergang Rafah heute noch geöffnet wird“, steht in der Mail des Auswärtigen Amtes an die Deutschen, die an der ägyptischen Grenze stehen und darauf warten, endlich aus der Hölle von Gaza herauszukommen.

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Ali und Haigar Barak müssen weiter ausharren. Viel Kraft haben sie nicht mehr. Er ist 82 Jahre alt und krank, sie ist 76. Die vergangenen Tage hat das Ehepaar aus Krefeld in Furcht vor den Bomben verbracht, die Israel nach der mörderischen Terror-Attacke der Hamas auf den Gazastreifen herunterregnen lässt. Die Baraks sind zwei von mindestens 150 deutschen Staatsbürgern, die im Gazastreifen vom Krieg überrascht wurden. Die zwei Palästinenser sind vor langer Zeit nach Deutschland, er 1964, sie 1975, beide deutsche Staatsbürger.

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Ali und Haigar Barak sind im August in den Gazastreifen gereist. Ihr Vater habe vor seinem Tod noch einmal die Olivenhaine der Familie in Abasan im Süden Gazas besuchen wollen, erzählt seine Tochter. Sie ist in Deutschland und kann seit Tagen nicht mehr schlafen, weil sie große Angst um ihre Eltern hat. Die Tochter möchte nicht, dass ihr Name veröffentlicht wird.

Vergeltung für den Terrorangriff

Die Baraks werden von dem Angriff der Hamas völlig überrascht. Als ihre Tochter die ersten Nachrichten sieht, ruft sie ihre Eltern völlig aufgelöst an: „Ihr müsst sofort raus aus Gaza.“ Ihr Vater versucht sie zu beruhigen, sagt ihr, so schnell werde nichts Großes geschehen. Stunden später wird klar, wie umfassend, wie brutal und wie opferreich der Terror-Angriff ist. Und dass die israelische Vergeltung heftig sein wird.

Der junge palästinensische Filmemacher Yousef Hammash ahnt frühzeitig, was auf die Bewohner des Gazastreifens zukommen wird. Schon am Tag der Hamas-Terrorattacke sagt er: „Das ist der Beginn einer neuen Ära. Wir erwarten einen Krieg, der alles Bisherige in den Schatten stellen wird.“

Letzter Ausweg: Ägypten?

Gleich in der ersten Nacht prasseln Hunderte Raketen auf den Gazastreifen, es trifft vor allem Beit Hanoun im Norden. Die israelischen Streitkräfte riegeln den kleinen, mit zwei Millionen Menschen überbevölkerten Landstrich an der Mittelmeerküste ab. Ägypten schließt den Grenzübergang Rafah im Süden des Gazastreifens. Niemand kann mehr heraus, niemand herein.

Die Baraks reisen trotzdem an die ägyptische Grenze. In Rafah angekommen, erlebt das Ehepaar nahe Raketeneinschläge, erzählt die Tochter. Die beiden übernachten in einer Halle, in der normalerweise Visa abgestempelt werden. Am nächsten Tag sei Rafah wieder bombardiert worden. „Mama und Papa sind dann in Bani Suheila bei Verwandten untergekommen“, erzählt die Tochter.

Keine Ausreisemöglichkeit für Ehepaar Barak

Die israelischen Streitkräfte beteuern, sie versuchten das Leben von Zivilisten bei ihren Angriffen zu schonen. Sie geben vor Luftschlägen meistens Warnungen durch und beschießen militärische Ziele. Die Hamas hat aber ihre Befehlsstände und Raketenwerfer inmitten der zivilen Infrastruktur platziert.

Die Tochter der Baraks versucht ihren Eltern von Deutschland aus zu helfen. Immer wieder ruft sie beim Auswärtigen Amt an. Vergeblich. Während deutsche Staatsbürger bereits am Donnerstag aus Israel herausgeflogen werden, zieht sich die Unterstützung für die in Gaza eingeschlossenen hin.

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Am Freitagabend erhalten die Baraks eine Mail des Auswärtigen Amtes, in der eine Ausreisemöglichkeit am Samstag in Aussicht gestellt wird, allerdings liege eine „formale Einreisegenehmigung“ der Ägypter noch nicht vor. Die Baraks reisen wieder zur Grenze.

Am Samstagmittag, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist gerade zu Besuch in Ägypten, folgt die enttäuschende Ernüchterung. Die Mail, dass es mit der Ausreise doch vorerst nichts wird. „Israelische Stellen haben die Zusage vorerst zurückgezogen, für heute (…) einen sicheren Korridor zum Grenzübergang zu gewährleisten.“

Die Bodenoffensive rückt näher

Die Tochter der Baraks ist entsetzt: „Diese Ungewissheit ist grauenhaft“, sagt sie. Die Straße zwischen Rafah und Bani Suheila sei überfüllt, vielerorts lägen Leichen. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagt am frühen Nachmittag, man stimme sich derzeit mit israelischen und ägyptischen Kollegen ab.

Zur gleichen Zeit bereiten sich israelische Soldaten nördlich des Gazastreifens auf die Bodenoffensive vor. Südlich von Aschkelon stehen am Mittag keine zehn Kilometer entfernt von der Grenze Dutzende Panzer und anderes schweres Gerät.

Tausende ergreifen die Flucht

Es ist eine gewaltige Streitmacht, die Israel auffährt. Aus dem Gazastreifen dröhnt das dumpfe Geräusch der Luftschläge herüber. Rauchsäulen stehen am Horizont. Immer wieder gellen Sirenen, nur Sekunden später explodieren am Himmel Raketen der Hamas, abgefangen von der israelischen Luftabwehr.

Die Nervosität ist groß, die israelische Polizei vertreibt energisch Journalisten, die die Szene beobachten. „Hier ist ein militärisches Sperrgebiet“, herrschen die Beamten die Reporter über Lautsprecher an.

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Tags zuvor hat die israelische Armee am Morgen die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens aufgefordert, in den Süden zu fliehen. Der Aufruf richtet sich an über eine Million Menschen aus Beit-Hanun, Bait Lahiya, Dschabaliya und Gaza-Stadt. Zehntausende machen sich daraufhin auf den Weg.

Die Menschen schlafen auf der Straße

Am Freitagabend zirkulieren Videos in den sozialen Medien. Sie zeigen grauenhafte Bilder von der Salah-al-Din-Straße, die vom Norden des Gazastreifens in den Süden führt. Auf der Straße brennen mehrere Autos, blutüberströmte Leichen liegen auf dem Asphalt. Das palästinensische Gesundheitsministerium spricht von einem israelischen Angriff, der siebzig Tote gefordert habe. Die Israelis dementieren die Vorwürfe.

Der junge Filmemacher Hammash berichtet am Samstagnachmittag aus Chan Yunis, der Stadt im Süden, zu der die Salah-al-Din-Straße führt: Die Stadt sei völlig überfüllt mit Flüchtlingen aus dem Norden. Hunderttausende sollen sich auf den Weg gemacht haben.

„Die Menschen schlafen auf den Straßen, das Krankenhaus ist völlig überlastet, die Geschäfte sind leer, die Bäckereien produzieren kein Brot mehr. Strom und Wasser gibt es nicht.“ Er kann etwa eine Minute reden, dann bricht die Verbindung ab. Es gibt Gerüchte, das Internet solle abgestellt werden. Nur am Samstagmorgen sind im Gazastreifen nach Angaben der Vereinten Nationen bereits mehr als 1300 Gebäude zerstört worden. Die Hamas spricht von bislang über 2200 getöteten Palästinensern.

Grenzübergang nach Ägypten bleibt geschlossen

Am Grenzübergang in Rafah warten die Baraks weiter auf Nachrichten. Auf ägyptischer Seite haben Grenzschützer begonnen, eine Betonmauer zu bauen, um die Grenze dicht zu machen. Kurz nach 16.30 Uhr Ortszeit keimt wieder Hoffnung auf. Es heißt, möglicherweise könnten ausländische Staatsbürger doch noch am Samstag herauskommen.

„Meine Eltern sind mit ihren Nerven fertig“, klagt die Tochter, „Sie halten das alles nicht mehr aus. Sie sind doch schon so alt“. Dann der Schock: Der Grenzübergang bleibt geschlossen. Lesen Sie auch den Kommentar: Dürfen Deutsche Mitgefühl mit Palästinensern haben?