Jerusalem. Wie viele Geiseln die Hamas in Israel genommen hat, ist unklar. Doch die Angst der Angehörigen wächst – auch wegen schlimmer Gerüchte.
Am frühen Samstagmorgen hörte Galit Dan ihre Tochter Noya zum letzten Mal. „Mama, da sind Leute im Haus, sie machen Krach, ich hab solche Angst“, flüsterte die 13-Jährige ins Telefon. Dann brach die Verbindung ab. Das Mädchen hatte Abend mit ihrer Großmutter Carmela verbracht und bei ihr übernachtet. Am frühen Morgen gingen plötzlich die Sirenen los.
Raketenalarm ist angstvolle Routine in Nir Oz, einem 400-Einwohner-Kibbuz nahe der Grenze zum Gazastreifen im Süden Israels. Die Menschen haben nur wenige Sekunden Zeit, um sich nach dem Einsetzen des Alarms in den Luftschutzraum des Hauses zu retten. Noya und ihre Großmutter Carmela hatten es geschafft. Vor den Raketen waren sie geschützt, nicht aber vor den Terroristen aus Gaza, die in ihr Haus eingedrungen waren.
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„Sie schreien und zerbrechen alles“, sagte Carmela am Telefon. Das war der letzte Satz, den Galit von ihrer Mutter hörte. Seither fehlt von ihrer Tochter und ihrer Mutter, aber auch von ihren beiden Nichten und deren Vater, jede Spur. Mit hoher Wahrscheinlichkeit zählen sie zu jenen mindestens hundert Menschen, die von den Terroristen in den Gazastreifen verschleppt wurden. Niemand weiß, ob sie noch am Leben sind – ob sie Wasser, Essen, die nötigen Medikamente bekommen.
Gaza: Niemand weiß, ob die Geiseln noch am Leben sind
Carmela ist 80 Jahre alt, Noya ist Autistin. Der Gazastreifen unterliegt heftigen Bombardements, seitdem Israel seinen Vergeltungsschlag gegen die Hamas begonnen hat. „Noya ist so ein gescheites, sensibles Mädchen“, erzählt Galit unter Tränen im Gespräch mit dieser Redaktion. „Ich hoffe so sehr, dass sie mit meiner Mutter zusammen ist, dass sie am Leben ist.“
Israels Regierung und regierungsnahe Medien sind auffällig still, was das Geiseldrama betrifft. Wenig hört man über die vielen Vermissten, deren Namen auf Listen in den sozialen Medien geteilt werden. Das offizielle Israel ist im Kriegsmodus, alle Rhetorik dient der Propagandakampagne rund um den Vergeltungsschlag in Gaza.
Die Angehörigen der Geiseln hingegen fühlen sich allein gelassen. „Niemand spricht mit uns“, klagt Galit. Nicht die Polizei, nicht die Behörden. „Die einzigen, die mit mir reden, sind Journalisten.“ Was sie hinter der Passivität des Staates vermutet? „Ich glaube, sie wissen einfach nicht, was sie mir sagen sollen.“ Der israelische Staat sei mit der Aufgabe überfordert, es gebe zu viele Betroffene.
Unter den Entführten befinden sich auch Deutsche
Galit sieht daher auch Deutschland in der Pflicht. „Deutschlands Regierung soll sich einschalten und Verhandlungen führen, mit den Palästinensern reden, nachschauen, ob die Geiseln noch am Leben sind. Schickt jemanden von der UNO, fahrt nach Gaza, helft uns. Das ist auch eure Verantwortung“, fleht sie.
Tatsächlich sind unter den Verschleppten auch deutsche Staatsangehörige. Eine von ihnen ist die 22-jährige Shani Louk. Ihre Mutter Ricarda ist vor dreißig Jahren Jahren von Ravensburg nach Israel ausgewandert und ist mit einem Israeli verheiratet. Die 22-Jährige war fürs Wochenende zum Open Air-Festival Tribe of Nova gefahren, um wie rund 3000 weitere junge Menschen dort auf einer Raveparty zu feiern.
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Samstagmorgen stürmten Terroristen aus Gaza das Festival mit Autos und Motorrädern und schossen um sich. Mindestens 260 Menschen sollen dabei auf der Stelle ums Leben gekommen sein, weitere erlagen später ihren Verletzungen. Einige wurden wie Shani Louk nach Gaza verschleppt. Louk ist nicht die einzige deutsche Geisel in Gaza, wie das Außenamt bestätigt. Wie viele Deutsche unter den Geiseln sind, ist nicht bekannt.
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Verschleppte Israelis: „Mein halber Kibbuz ist in Gaza“
Auch Israels Armee will noch keine Angaben über die Zahl der Geiseln machen. Es handle sich aber um „eine sehr große Anzahl an Israelis – Zivilisten und Soldaten“, sagt Jonathan Conricus, ein Sprecher der israelischen Armee. Konkrete Zahlen werde man erst in wenigen Tagen nennen können, „aber zu diesem Zeitpunkt kann ich sagen: Wir sprechen hier von sehr, sehr vielen Israelis. Israelis die verschleppt wurden, Frauen, Kinder, Babys, Alte, sogar Menschen mit Behinderungen.“ Palästinensischen Angaben nach handelt es sich um 130 Geiseln, überprüfbar ist das nicht.
Galit glaubt, dass es viel mehr Geiseln sind. „Mein halber Kibbuz ist in Gaza“, sagt sie. Vor dem Überfall hätten dort 400 Einwohner gelebt – inzwischen wurde das gesamte Gebiet nahe der Grenze zur Sperrzone erklärt. Galit hat sich mit ihrer jüngeren Tochter ans Tote Meer in eine Unterkunft geflüchtet. Die Neunjährige sei ihr einziger Trost. „Sie ist so mutig, sie tröstet mich und sagt: Mami, hab keine Angst.“
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Für die Angehörigen der Vermissten wird die Ungewissheit zur Folter. Bei manchen wird die Angst noch verstärkt durch bedrohliche Kontaktaufnahmen von Unbekannten. Ahuva Maizel, deren Tochter vom Rave-Festival in der Wüste nicht zurückkam, erhielt Whatsapp-Anrufe von einer palästinensischen Nummer. „Im Hintergrund hörte ich Frauen schreien. Ein Mann sagte: Wir sind die Hamas, ihr Israelis habt schöne Töchter“. Ahuva, die vor Angst und Schmerz „kaum mehr denken“ kann, wie sie sagt, kann nicht beurteilen, ob die Anrufer tatsächlich Hamas-Leute waren.
„Ich kann schon nicht mehr zwischen Fake und Wirklichkeit unterscheiden“, sagt sie. Indes meldeten chinesische Agenturen mögliche Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch, die unter Vermittlung Katars und mit Unterstützung der USA stattfinden sollen. Die Agentur Xinhua beruft sich auf Hamas-Quellen. Israel kommentiert die Berichte nicht. Zudem soll der Austausch nur weibliche Gefangene betreffen. Ob er stattfinden wird, bleibt ungewiss.
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