Siegen. Der dicke Wälzer ist ein Jahrhundertwerk: Nach 125 Jahren gibt es wieder eine Siegener Stadtgeschichte – voller Überraschungen und Neuentdeckungen.
Wer sonntags beim Gottesdienst einschläft oder schwätzt, wird mit einem Stockhieb zur Ordnung gerufen. „Unzüchtige Lieder“ dürfen nicht gesungen werden, „neuwer art unhofliche griffe“ beim Tanz sind verboten, ebenso das Herumlaufen von Kindern um die Tische in Wein- und Bierhäusern und die Anwesenheit von Frauen beim Schützenfest. 1546 hat sich der Siegener Rat ordentlich in das alltägliche Leben der Menschen in der Stadt eingemischt.
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In der Siegener Straßenordnung von 1829 wird ausdrücklich „pöbelhaftes Gezänke“ in der Öffentlichkeit bei Strafe verboten, ebenso die „Völlerei“, womit Volltrunkenheit gemeint ist. 15 junge Männer werden zu je einem Taler Geldstrafe verurteilt, nachdem sie sich an einem Tag im Mai 1843 betrunken und johlend von mehreren hundert Kindern auf einem Wagen durch die Stadt haben ziehen lassen. Etwa zur gleichen Zeit arbeiten Kinder schon mit zehn Jahren in der Spinnerei des Baumwollfabrikanten Adolf Albert Dresler. Die eine Stunde Schule findet am Abend statt, wird erst später in der Mittagszeit von 11 bis 12 Uhr verlegt, bevor der zehnstündige Arbeitstag weitergeht.
„Wir wollten nicht auf eingetretenen Pfaden weiterlaufen.“
Siegen: In elf Kapiteln von der Steinzeit bis zur Mafia-Eisdiele
„Siegen. Geschichte einer Stadt“ ist voll von solchen Schilderungen des Alltags. Die Stadtgeschichte zum 800-Jährigen konnte auf viele bisher nicht bekannte und genutzte Quellen zurückgreifen. Archive und Aktenbestände sind zugänglich geworden, an die Forscher in der vordigitalen Zeit nur schwer oder gar nicht herankamen. „Der neue Blickwinkel war gewünscht“, sagt Oliver Teufer. Der Historiker im Siegener Stadtarchiv hat die Herausgabe der ersten kompletten Stadtgeschichte seit Heinrich von Achenbachs „Geschichte der Stadt Siegen“ von 1894 koordiniert, „Den Blick von unten beleuchten“ und nicht nur die Sicht von oben, darin erkennt der neue Stadtarchivar Daniel Schneider das Besondere des Werks, das – so Bürgermeister Steffen Mues – „für Jahrzehnte ein Standardwerk“ sein werde. „Wir wollten nicht auf eingetretenen Pfaden weiterlaufen“, sagt der pensionierte Stadtarchivar Ludwig Burwitz, der das Redaktionsteam geleitet hat.
Die „moderne Stadtgeschichte“ (Burwitz) ist klassisch aufgebaut: Sie beginnt vor 13.000 Jahren in der älteren Steinzeit und arbeitet sich in elf Kapiteln durch bis in die Gegenwart – zur Razzia in der als ’Ndrangheta-Stützpunkt verdächtigten Eisdiele Al Teatro neben dem Apollo-Theater. Man erfährt, dass das Siegerland zur Bronzezeit kaum besiedelt und von „undurchdringlichen Wäldern“ bedeckt war. Dass erst in der Eisenzeit Werkzeuge hergestellt werden konnten, die eine Bearbeitung des harten Bodens ermöglichten. Dass das Siegerland bis zur Zeitenwende bedeutende Montanregion wurde – und sich dann, nach dem Vorrücken der Römer, für lange Zeit wieder leerte.
Im Weinhaus Grumpel gehen Siegens Bürgermeister und Schultheiß aufeinander los
Es geht weiter ins Hochmittelalter, als Siegen – wohl um 1170 bis 1180 gegründet – in der Urkunde von 1224 erstmals erwähnt wird. Dann in den langen Abschnitt bis zur Reformation: als es noch Leibeigene gab, die der Graf samt Immobilien an Siegener Bürger verpfändete. Als Bürgermeister und Rat auf der einen Seite den Aufstand gegen den Schultheißen des Grafen wagten, konkret in Form einer Beinahe-Schlägerei im Weinhaus Grumpel. Als unter dem katholischen Grafen Johann V noch Fastnacht gefeiert wurde, in Form von üppigen Gelagen und Schlemmereien („Schauessen“). Als der Rat der Stadt auch Gericht war, das über Totschläger ebenso urteilte wie über Weinpanscher.
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„Siegen. Geschichte einer Stadt“ ist bunt und vielfältig. Dafür hat die Redaktion gesorgt, indem sie einen großen Kreis von Autorinnen und Autoren der verschiedensten Forschungsschwerpunkte hinzuzog, denen sie zwar den zu behandelnden Zeitraum, aber nicht die Art der Darstellung und die Gewichtungen der Themen vorgab. „Fast alle Entwicklungen der europäischen und deutschen Geschichte können in Siegen nachvollzogen werden“, sagt Stadtarchivar Daniel Schneider, „alles, was unser Leben heute ausmacht, ist über Jahrzehnte und Jahrhunderte entstanden.“
Siegener Religionsfehde: Sogar die Apotheken waren katholisch oder evangelisch
Weiter geht die Reise durch die 800 Jahre in das 16. Jahrhundert mit der Gründung des Franziskanerklosters an der Stelle des heutigen Unteren Schlosses bis zum Ausbruch der 30-jährigen Krieges 1618. Dann in die Zeit der Residenzstadt von 1617 bis 1743, geprägt vom Dauerstreit der katholischen und evangelischen Linien des Hauses Nassau, die gemeinsam über Siegen herrschten. Wilhelm Moritz (reformiert) ließ die heutige Hirsch-Apotheke im Nassauischen Hof (Unteres Schloss) ansiedeln, Johann Franz Desideratus (katholisch) die Löwen-Apotheke am Markt - auch das Apothekenwesen war gespalten. In den nächsten Kapiteln geht es um das 18. Jahrhundert, das preußische Siegen bis zum Bau der Eisenbahn, das moderne Siegen bis zum ersten Weltkrieg und um Siegen bis 1945.
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Bei aller Unterschiedlichkeit in Stil und Herangehensweise zieht sich der Blick auf Stadtbild und Stadtentwicklung wie ein roter Faden durchs Buch: Siegen, ganz hervorgegangen aus einer Siedlung um die Martinikirche, einer Vorsiedlung („Altsigin“) am Ufer der Weiß, ist zunächst in die heutige Altstadt (die „Nikolaistadt“) den Siegberg hinaufgewachsen. Aus der Furt wurde die Siegbrücke zur heutigen Bahnhofstraße, außerhalb der Stadt, aber zum Gemeindegebiet gehörend, entstanden die Siedlungen Hainer Hütte, Hammerhütte und Sieghütte. Kühe, Schafe und Ziegen gehören zwar noch lange zum Stadtbild. Nach und nach aber wandern Landwirtschaft und Industrie ins Umland ab, während in der Stadt selbst Handwerker, Unternehmer und Beamte wohnen. Beste Adresse der wohlhabendsten Siegener ist zur Zeit die Residenzstadt die Kölner Straße. Erst im 19. Jahrhundert wird der Mühlenweiher am Fuß des Siegbergs zugeschüttet, die Sandstraße wird Hauptverkehrsachse, die Unterstadt entsteht.
Der andere Blick: Frauenfußball und Häuserkampf statt Apollo und MGK
Der Blick von außen war gewünscht, nur einer der Autoren ist Siegener. Das zahlt sich aus in der Unbefangenheit, mit der sich die neue Stadtgeschichte der Gegenwart nähern kann: der problematischen Positionierung des CDU-Oberbürgermeisters Ernst Bach am rechten Rand des politischen Spektrums, dem unfreundlichen Umgang der Siegener mit den Geflüchteten nach dem zweiten Weltkrieg, dem Häuserkampf gegen den Bau der HTS in den 1970er Jahren. Das letzte Kapitel ist spannend, weil es die Jahrzehnte behandelt, die bisher noch nicht Geschichte waren: Fußgängerzonen und italienische Eisdielen, Frauenhaus und Jugendzentren, Moscheen und Frauenfußball. Und nicht Apollo-Theater und Museum für Gegenwartskunst. Es kommt halt drauf an, wie man guckt.
Siegen. Geschichte einer Stadt. Verlag Ph. C, W. Schmidt 2024. 899 Seiten. 49 Euro..
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