Siegen. Der Davidstern über dem Obergraben: Rüdiger Fries hat viel Glück gehabt, als er die Rekonstruktion der Synagoge angeht.
Am 10. November 1938 zündeten die Siegener Nazis die prächtige Synagoge am Obergraben an. Sie zerstörten damit viel mehr als allein das repräsentative Zeichen einer lebendigen, liberalen jüdischen Gemeinde in der Stadt. Sie tilgten den Versammlungsort der Jüdinnen und Juden, schleiften später die Brandruine und setzten auf das Fundament einen Luftschutzbunker. Sie enteigneten die Menschen jüdischen Glaubens, entehrten und vertrieben sie – mit aller Konsequenz, bis zur Deportation und Ermordung.
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Doch die Erinnerung konnten Hitlers Handlanger nicht auslöschen. Denn auch in Siegen gab es Menschen, die wider das Vergessen eintraten, die Kontakt hielten zu den wenigen Überlebenden, die das Gedenken einforderten und wachhielten. Es gibt sie noch. Sichtbar zum Beispiel in den Veranstaltungen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland, sichtbar auch im Aktiven Museum Südwestfalen. Fotografien und Berichte erinnern an die einstige Synagoge, deren virtuelle Rekonstruktion im Jahr 2021 durch die Multimedia-Künstlerin Gabriela von Seltmann erfolgte. Was bislang fehlte, war eine anschauliche Darstellung, ein Modell.
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Modell voller Leben: Männer unten, Frauen oben
Es ist der Eigeninitiative des Weidenauers Rüdiger Fries zu verdanken, dass diese Leerstelle nun geschlossen ist. Denn der Verlust der Siegener Synagoge hat ihn regelrecht umgetrieben. Fries spricht von Schmerz und Empörung, von dem Gegensatz der während seiner Sonntagsaufsichten im Aktiven Museum erlebten kalten Betonwände des Bunkers zu dem mit handwerklichem und künstlerischem Fleiß erbauten Sakralgebäude. Und so entstand vor rund fünf Jahren die Idee, die Synagoge im kleinen Format nachbauen zu lassen.
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Im Sommer ist das Modell fertiggestellt worden, seit Mitte September ruht es imposant auf einem improvisierten Podest im Fries’schen Wohnzimmer. Anderthalb Meter hoch und jeweils einen guten Meter breit und tief, zeigt es die Siegener Synagoge originalgetreu im Maßstab von 1:20. Gefertigt hat das Gotteshaus der Modellbauer Hans Heinrich Graue aus Lauterbach im hessischen Vogelsbergkreis. Mit Akribie und Liebe zu Form und Material und mit dem Vermögen, die Dimensionen nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich zu erfassen. Graue kennt sich aus mit der Geschichte des Judentums. Vor zehn Jahren schon schuf er ein Modell der gleichfalls von den Nazis zerstörten Synagoge von Alsfeld; es ist im dortigen Regionalmuseum zu sehen.
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Authentisch wie zur Eröffnung 1904
Das Siegener Modell beeindruckt besonders durch das komplett geschieferte Dach mit seinen Ecktürmchen und der mächtigen Haube, gekrönt von einem Davidsstern. Dieser ziert auch die Fenster zu jeder Seite des Gebäudes und auch den Baldachin der kleinen Laubhütte gleich nebenan. Vor die Tür hat der Modellbauer einen elegant gekleideten Mann gestellt. Eine Szene, die mit einer historischen Fotografie korrespondiert. „Ich vermute, das ist Meyer Leser Stern, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde“, sagt Traute Fries. Die Schwester von Rüdiger Fries ist Mitbegründerin und Ehrenvorsitzende des Vereins Aktives Museum Südwestfalen. Auch die Größe des Mannes am Synagogenportal habe Hans Heinrich Graue als Richtmaß gedient, erklärt sie. Schließlich sei es immer darum gegangen, alles in der richtigen Relation nachzubauen. Figuren sind auch beim Blick durch die Fenster im beleuchtbaren Inneren der Synagoge zu erkennen: die Männer unten im Raum, die Frauen auf der Empore.
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Das authentisch gearbeitete Modell vertieft, was die Fotografien von Heinrich Schmeck oder Erich Koch erzählen. Es unterstreicht auch, was vom Tag der feierlichen Einweihung, dem 22. Juli 1904, berichtet wird: Hier also fand sich die Festgemeinde zusammen, hier erklang Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, hier freuten sich Gemeindemitglieder und Handwerksmeister (aber der Bürgermeister und die kirchlichen Vertreter eben nicht!) über den repräsentativen Bau. Kein Geringerer als der preußische Regierungs- und Baurat Eduard Fürstenau hatte die Siegener Synagoge geplant – als „Schwester-Synagoge“ der jüdischen Gotteshäuser in Dortmund (1900) und Bielefeld (1905).
Geschichte der Siegener Synagoge
25. März 1891: Gemeindevorsteher Meyer Leser Stern erwirbt ein Grundstück am Obergraben 10 in Siegen.
Ende 1902: Bauantrag auf der Basis des Entwurfs von Eduard Fürstenau
23. Juli 1903: Grundsteinlegung. Bauleiter ist der Siegener Architekt Hermann Giesler, bereits im Herbst des Jahres wird das Richtfest gefeiert.
22. Juli 1904: Schlüsselübergabe und festliche Einweihung
1929: nachträglicher Einbau zweier Rundöfen
10. November 1938: Brandstiftung und mutwillige Zerstörung
1939-41: Abriss der Ruine auf Kosten der enteigneten jüdischen Gemeinde. Auf dem Grundstück entsteht ein Hochbunker.
Oktober 1948: Schwurgerichtsprozess gegen die Brandstifter. Das Urteil: Freisprüche und vergleichsweise milde Strafen.
Detektivischer Glücksfall: Plan im Siegener Katasteramt
Was die Erstellung des Modells anfangs enorm erschwerte: Es fanden sich trotz intensiver Suche keinerlei Planungsskizzen. Als detektivischer Glücksfall erwies sich für Rüdiger Fries die Nachfrage beim Katasteramt des Kreises Siegen-Wittgenstein, wo tatsächlich ein Katasterplan für die Jahre 1905/06 hinterlegt war. Dieser Lageplan enthielt die Flächenmaßangaben des 1891 erworbenen Grundstücks und die des Gebäudes. Auf dieser Grundlage, ergänzt um weiteres dokumentarisches Material und Recherchen beim MiQua, dem Jüdischen LVR-Museum im Archäologischen Quartier Köln, konnte Graue sein Modell projektieren. Besonders herausfordernd war dabei die Gestaltung der Synagogen-Rückseite, da von dieser keine Fotografien aufzuspüren waren. Der Modellbauer arbeitete mit der Annahme, dass die zum angrenzenden Hospital weisende Nordfassade eine Art reduzierter Spiegel der Vorderfront gewesen sein musste.
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Das so entstandene harmonische Ganze deckt sich mit der Beschreibung der Synagoge, die sich in Gesche Fürstenaus Magisterarbeit (1988) über Eduard Fürstenau und seine Sakralbauten findet: Eduard Fürstenau habe die Siegener Synagoge aus einem gedrungenen griechischen Kreuz entwickelt, heißt es dort. Der eigentliche Kultraum bestand aus dem zentralen Vierungsquadrat, über dem sich der achteckige Kuppelraum erhob, und dem östlichen Kreuzarm – mit Allerheiligstem, Kantor- und Rabbinerzimmer sowie Sängerempore. Die Synagoge hatte zwei nebeneinanderliegende Portale, eines für Männer, eines für Frauen; es gab eine Hausmeisterwohnung und Raum für den Religionsunterricht.
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Baumeister Eduard Fürstenau stirbt im Mai 1938
Für Gesche Fürstenau, die Frau eines Großneffen des preußischen Architekten, ist die Siegener Synagoge ein besonders berührender Bau in Fürstenaus Schaffen. „Er sieht so einladend aus“, habe die Kunsthistorikerin bei seinem Besuch bei ihr in Dreieich gesagt, so Rüdiger Fries. Für ihn eine Bestätigung seines enormen (auch finanziellen) Einsatzes. Das modellhafte Wiedererrichten des Gotteshauses sei ein beispielhaftes Zeichen dafür, „dass die unglaublich bösartige Zerstörung nicht der Endpunkt der Geschichte der Siegener Synagoge ist“. Eduard Fürstenau musste nicht mehr miterleben, wie seine Synagogen in Siegen, Dortmund und Bielefeld mutwillig zerstört wurden. Der 1862 in Marburg geborene Baumeister starb im Mai des Novemberpogromjahrs 1938 in Berlin.
Das Modell der Siegener Synagoge ist vorerst nun zu sehen im Weidenauer Zuhause der Familie Fries, „die eng verbunden mit der jüdischen Familie Frank war“, wie Rüdiger Fries unterstreicht. Das Herzensprojekt ist ihm ans Herz gewachsen. Er plant, das Modell später als Leihgabe ans Aktive Museum Südwestfalen zu geben. Vorerst können sich Interessierte bei ihm für eine Besichtigung des Synagogen-Modells unter Tel. 0271/73566 anmelden.
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