Siegen. Der Rat wird sich am Mittwoch wieder mit dem OB der Nazi-Zeit befassen. Es geht um die Texte, mit denen die Stadt Alfred Fißmer beschreibt.

Alfred Fissmer und kein Ende: Mit seinem Beschluss über die Texte, mit denen die Stadt Passanten der nach dem früheren Oberbürgermeister benannten Anlage über den Namensgeber informiert, hat der Kulturausschuss im Februar offensichtlich nicht das letzte Wort gesprochen.

Sechs Ratsfraktionen – alle außer AfD und FDP – machen im Rat einen neuen Vorschlag zu dem Text, der auf der Acryltafel stehen soll. Vorerst nur hinter den Kulissen wird aber auch die Auseinandersetzung über den so genannten Langtext geführt, zu dem man gelangen soll, wenn man dem auf der Acryltafel vorgesehenen QR-Code folgt.

Die neue Runde der Debatte hatte sich früh abgezeichnet: Die Minderheit im Kulturausschuss, aus der nun eine Ratsmehrheit zu werden scheint, empfand den Text als „beschönigend“.

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Die Acryltafel – Alternativen

Die Stadt-Variante: Die Kurzfassung stellt Alfred Fissmer, Oberbürgermeister von 1919 bis 1945, so vor: „In seiner Amtszeit machte er sich durch die nachhaltige Förderung Siegens verdient, darunter weitsichtige Maßnahmen zu Stadtplanung, Infrastruktur und Bauwesen sowie eine vorbildliche Finanzpolitik. Auf Initiative Fissmers wurde Siegen durch die Ansiedlung mehrerer Kasernen zum Militärstandort. Auch betrieb er ein umfangreiches Luftschutzprogramm zum Schutz der Zivilbevölkerung.“ Weiter heißt es: „In der NS-Zeit war Fissmer Mitglied verschiedener NS-Organisationen und trat 1937 in die NSDAP ein, ohne als bekennender Nationalsozialist aufzutreten. Gleichwohl setzte er sich für Verfolgte des NS-Regimes ein. Er arrangierte sich mit den Machthabern, wohl um sein Amt zu erhalten, und war somit als Oberbürgermeister für die Vorgänge in Siegen mitverantwortlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Fissmer in die neu gegründete CDU ein und blieb im öffentlichen Leben präsent. 1953 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Siegen ernannt und erhielt das Bundesverdienstkreuz verliehen.“

Die Alternative: Dagegen setzen die sechs Fraktionen einen alternativen Vorschlag: Darin werden Wachstum und Modernisierung Siegens in Fissmers Amtszeit gewürdigt, ebenso der Bau der Bunker, durch den Menschenleben bei den Bombenangriffen auf die Stadt gerettet wurden. Fissmer wird allerdings auch verantwortlich dafür gemacht, dass Siegen überhaupt Garnisonsstandort wurde – „was auch zur Zerstörung der Stadt durch alliierte Bombenangriffe beitrug“. Zurecht gerückt wird, dass Fissmer bereits 1933 seine Aufnahme in die NSDAP beantragte und dass er als Polizei- und Verwaltungschef „mitverantwortlich für die Geschehnisse in Siegen“ war. Erwähnt wird, dass es Konflikte zwischen Fissmer und der NSDAP gab und dass er sich für Verfolgte des Regimes eingesetzt hat. „Die direkte Teilnahme an den Verbrechen des NS-Regimes konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Bis heute wirft die Rolle Fissmers in der NS-Zeit Fragen auf.“

Zur Person

Alfred Fissmer wurde 1878 in Hohenlimburg geboren und starb 1966 in Siegen. Er war Volljurist und seit 1909 Polizeidezernent in Bochum.

In Siegen wurde er 1919 von einem konservativen, deutschnationalen Bündnis (DNVP, DVP, Zentrum) zum Bürgermeister gewählt. SPD, DDP und USPD stimmten gegen ihn.

Die Langfassung – Positionen

Der Fissmer-Rechercheur: Im Blog des Kreisarchivs hat Raimund Hellwig, der zuletzt in der Zeitschrift „Siegerland“ des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins einen Aufsatz über den Forschungsstand zu Fissmer und über das vom Stadtarchiv Siegen vorgelegte „Biogramm“ veröffentlicht hat, mit einem Gastbeitrag eine weitere Debatte ausgelöst: Die Luftschutzmaßnahmen seien durch das Regime als Kriegsvorbereitung veranlasst worden, nicht durch den Oberbürgermeister. Das Wohnungsbauprogramm stehe in Zusammenhang mit der Garnison: Geschaffen worden seien Wohnungen für Offiziere – und die „SA-Siedlung“ in der Winchenbach. Hellwigs Fazit: „Das tatsächliche Verhalten Fissmers im 3. Reich in den strittigen Fragen NS-Mitgliedschaft, seine Rolle in der Verfolgung von Minderheiten, die Arisierung und die moralische Bewertung seiner Amtsführung ist nicht komplett rekonstruierbar.“ Die Texte nähmen „von interessierter Seite erwünschte Forschungsergebnisse als gegeben vorweg. Ob es diese Forschungen dann tatsächlich geben wird, ist den Interessierten dagegen ziemlich egal.“

Der Historiker: Der früher in Siegen wohnende Historiker Dr. Ulrich Opfermann weist darauf hin, dass die „arisierte“ Villa der Familie Herrmann durch Fissmers Vermittlung an den Standortkommandanten Karl Adolf Hollidt ging, der 1948 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. In der Stadtgeschichtsschreibung wird auf der anderen Seite erwähnt, dass es Oberbürgermeister Fissmer war, der nach der Pogromnacht „eine schützende Hand über die Siegener Juden“ hielt – so berichtete Klaus Dietermann, inzwischen verstorbener Autor über die Geschichte der Juden im Siegerland, aus einem Gespräch mit Hugo Herrmann.

Der Kreisarchivar: „Mir wäre etwas mehr Geduld bei der Erforschung von Fissmers Biographie sehr lieb gewesen“, schreibt Kreisarchivar Thomas Wolf im Blog des Kreisarchivs. Er erinnert an einen Aktenband, über den das Siegener Stadtarchiv ebenfalls verfügt: Darin enthalten sei ein Schreiben, in dem sich der Oberbürgermeister gegenüber dem Museumsdirektor über „entartete Kunst“ äußere. Vor wenigen Tagen hat Wolf eine „Quellen- und Literatursammlung zur Lebensgeschichte Alfred Fissmers“ veröffentlicht, verbunden mit deutlicher Kritik am Umgang mit der Fissmer-Geschichte in Siegen: „Sowohl dem Rat der Stadt Siegen als auch dessen Kulturausschuss wurden biographische Skizzen vorgelegt, die ihre Quellen nicht benannten.“

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