Hagen. Familien, die mit Ratten in Schimmel-Wohnungen in Hagen leben müssen - davon berichten Sozialarbeiter bei einer bemerkenswerten Veranstaltung.
Es sind eben keine Fälle, die abgelegt werden zwischen analogen oder digitalen Aktendeckeln. Keine Vorgänge. Keine tristen DIN-A-4-Dokumente, gelocht und abgeheftet. Es sind Menschen, mit denen Christine Fulde und ihre Kollegen bei der Familienbegleitung der Caritas in Hagen zu tun haben. Menschen, über die sie an diesem Abend erzählen. Menschen, wie jene Eltern, die jetzt seit einem Dreivierteljahr auf den Kinderzuschlag warten. „Die sitzen da mit vier Kindern und wissen nicht mehr weiter“, sagt Christine Fulde, „denen fehlt einfach das Geld.“
„Die sitzen da mit vier Kindern und wissen nicht mehr weiter. Denen fehlt einfach das Geld.“
Christine Fulde und viele weitere Kolleginnen und Kollegen, die in Beratungsstellen, in Kitas, im Offenen Ganztag, in der Migrationsberatung oder im Bereich Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt arbeiten, erzählen. Und vier Hagener Bundestagskandidaten hören zu: Katrin Helling-Plahr (FDP) Tijen Ataoğlu (CDU), Thomas Jalili Tanha und Timo Schisanowski. Politiker, die (wieder) in den deutschen Bundestag einziehen wollen und die im Parlament über Maßnahmen und Gesetze befinden, die all die Menschen, mit denen die Sozialarbeiter in Hagen zu tun haben, treffen.
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15 intensive Minuten für Bundestagskandidaten
„Sozialpolitischer Dialog“ heißt dieses Format, das so anders ist als die üblichen Podiumsdiskussionen, bei denen sich die Bundestagskandidaten in diesem Turbowahlkampf sonst begegnen und zu dem die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (AWO, Caritas, Paritätischem, DRK, Diakonie) eingeladen hat. Vier Kandidaten, vier Tische, vier Themen: Kinder und Familie, Arbeitsmarkt, Migration und Ehrenamt. An den Tischen sitzen jeweils Experten, Sozialarbeiter, die sich täglich den Menschen in Hagen und ihren vielschichtigen Problemen widmen. Sie erzählen über ihren Alltag, über Herausforderungen. Und die Kandidaten hören an jedem Tisch 15 intensive Minuten lang zu.
„Diese Menschen bleiben, sie verschwinden ja nicht einfach, nur weil Maßnahmen, die sie unterstützten, gestrichen werden.“
Sie erfahren mehr über Familien, die sich in schimmelbefallenen Wohnungen zu sechst 60 Quadratmetern mit Ratten teilen müssen, weil sie sich keinen anderen Wohnraum leisten können und heuschreckenartige Immobilien-Konzerne sich nicht die Bohne für die Bedingungen interessieren, unter denen Mieter leben müssen. Sie erfahren mehr über Kinder, die so dringend einen Platz in einer Kita bräuchten, aber in Hagen keinen in Wohnortnähe finden. Über Mädchen und Jungen, die dann eingeschult werden, ohne dass sie ein Wort Deutsch sprechen und ohne dass sie es je gelernt haben, sich in einer Gruppe mit Gleichaltrigen zurechtzufinden. Sie erfahren, wie sinnvolle Maßnahmen, um junge Menschen, die eigentlich keine Perspektive haben, doch noch in Arbeit zu bringen, einfach wegfallen, weil Politik auf unterschiedlichen Ebenen die Finanzierung gestrichen hat.
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Folgekosten um ein Vielfaches höher
„Diese Menschen bleiben“, sagt Alexander Letzel, Fachbereichsleiter Integration und Teilhabe bei der Caritas, „sie verschwinden ja nicht einfach, nur weil Maßnahmen, die sie unterstützen, gestrichen werden. Und die Folgekosten, die die Stadtgesellschaft irgendwann treffen, sind wesentlich höher als das, was vermeintlich eingespart wird.“ Man brauche daher eine Gesamtbetrachtung, die das sozial Notwendige ins Auge nehme und keine Entscheidungen nach Kassenlage.
„Die sozialen Probleme, die wir in Deutschland haben, sind hier in Hagen wie durch ein Brennglas zu spüren.“
„Schuldenbremse reformieren“ ist eine der Botschaften, die mit einem schwarzen Edding auf die braunen Papp-Tischdecken geschrieben sind. Thomas Jalili Tanha, junger Kandidat der Grünen, hat das als einen Lösungsvorschlag hinterlassen. Und Timo Schisanowski, der für die SPD seit dreieinhalb Jahren im Bundestag sitzt und das Direktmandat verteidigen will, hat den Slogan mit unterzeichnet. „Ich stimme der Bestandsaufnahme absolut zu“, sagt jener Mann, dessen Partei zuletzt den Kanzler gestellt hat, „die sozialen Probleme, die wir in Deutschland haben, sind hier in Hagen wie durch ein Brennglas zu spüren.“ Politik sei genötigt, nach Kassenlage zu entscheiden. Spielräume fehlten auf allen Ebenen. Es sei sinnvoll, die Schuldenregelung für mehr Zukunftsinvestitionen zu verändern.
„Die Bereiche, in denen wir mit Menschen zu tun haben, sind eigentlich die letzten, in denen wir sparen dürfen.“
Neue Spielräume im sozialen Bereich
„Die Bereiche, in denen wir mit Menschen zu tun haben, sind eigentlich die letzten, in denen wir sparen dürfen“, sagt Tijen Ataoğlu, „das sage ich ganz unabhängig vom Parteibuch.“ An der Schuldenbremse will die Richterin, die für die CDU ins Rennen geht und sich für eine Begrenzung der Migration ausspricht, allerdings nicht rütteln. Sie spricht sich für Einsparungen in der Ministerialbürokratie aus und für mehr Wirtschaftswachstum, um dem Staat finanzielle Spielräume zu verschaffen.
„Wir brauchen passgenaue Maßnahmen. Ich nehme von der Veranstaltung viele Zettel mit und den Wunsch, statt Einzelförderungen lieber auf eine verlässliche Regelfinanzierung zu setzen.“
Von den unterschiedlichen Bedarfen in den Regionen spricht Katrin Helling-Plahr, die selbst bald zum dritten Mal Mutter wird. „Da brauchen wir passgenaue Maßnahmen“, so die FDP-Abgeordnete, die gute Chancen hat - so die FDP die Fünf-Prozent-Hürde nimmt - wieder in den Bundestag einzuziehen. „Ich nehme von der Veranstaltung viele Zettel mit und den Wunsch, statt Einzelförderungen lieber auf eine verlässliche Regelfinanzierung zu setzen.“
„Der soziale Zusammenhalt, das, was diejenigen, die hier an den Tischen sitzen, aufbauen, fällt nicht vom Himmel.“
Angebote in Quartieren nötig
„Der soziale Zusammenhalt, das, was diejenigen, die hier an den Tischen sitzen, aufbauen, fällt nicht vom Himmel“, so Thomas Jalili Tanha, „wir als Politiker müssen das aktiv unterstützen.“ Es brauche Angebote in Quartieren. Und dazu direkte Ansprechpartner in Behörden.