Dortmund. Wer tötete Josef, Heike, Anna und den kleinen Marc? Dortmunder Polizei fasst 119 „Cold Cases“ an, nun stehen erste Verdächtige vor Gericht.
Sie puzzeln jede noch so kleine Info aus alten Akten, sie suchen winziges Erbgut aus Jahrzehnte alten Faserspuren, sie befragen Zeugen noch mal und noch mal – wenn die nicht längst gestorben sind. Der Rest ist Hoffnung: Überall im Land tüfteln Polizisten im Klein-Klein, um alte Kriminalfälle doch noch zu lösen. Binnen eines Jahres hat etwa in Dortmund die spezielle Ermittlungsgruppe „Cold Cases“ 119 nie aufgeklärte Morde und vergleichbare Taten angefasst, 42 neue Ansätze gefunden. Und es gibt erste Erfolge: Drei Verdächtige stehen inzwischen vor Gericht.
Wer tötete im Februar 1991 in Dortmund die 28-jährige Heike Kötting? Wer ermordete im September vor 38 Jahren in Bergkamen Josef Milata (67)? Schon im November könnte es auf beide Fragen eine späte Antwort geben: Im Fall Kötting stehen zwei Beschuldigte vor dem Schwurgericht; ein Mann und eine Frau sollen laut Anklage in das Haus ihres späteren Opfers eingebrochen sein. Im Fall Milata muss sich ein 56-Jähriger vor einer Jugendkammer verantworten; er war zur Tatzeit erst 18 Jahre alt. In Kürze werden Urteile erwartet.
Neueste Kriminaltechnik macht es möglich
Alle drei Angeklagten sitzen seit Frühjahr 2024 in Haft, die Polizei kam ihnen auf die Schliche mit neuester Kriminaltechnik – die es vor über 30 Jahren noch gar nicht gab. Kaum jemand redete damals schon von DNA, die sie nun unter Fingernägeln, im Fluchtauto, am Tatort fanden und endlich analysieren konnten. Es gebe heute, weiß Kriminaldirektorin Anika Uhlmann zu berichten, feinste Möglichkeiten, die noch vor zwei Jahren unbekannt waren. Für Ulrich Kayser ist das alles „Zauberei“, aber tatsächlich werde die Technik immer besser. „Und sie funktioniert!“
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Kayser ist einer der sogenannten „Rentner-Cops“, die schon zuvor in einem Pilotprojekt des Landeskriminalamts in den alten Fällen zu schnüffeln begannen. Eigentlich pensioniert, aber immer noch willig, sich in die Altfälle von Kollegen zu graben, mit frischem Blick an verstaubte Spuren zu gehen. Allein in Dortmund haben drei Männer zusammen mehr als 100 Jahre Erfahrung. Eine „reizvolle Aufgabe“ für Ulrich Kayser, 65, der zuvor in Hagen Leiter des Mordkommissariats war. Was ihn antreibt? „Wenn Sie die alten Fotos sehen, wenn Sie mit Hinterbliebenen Kontakt haben, dann stellt sich die Frage nach der Motivation nicht mehr.“ Das sagen sie alle, die für die Cold Cases, die Kalten Fälle, aus der Rente zurückgekommen sind: was es für ein gutes Gefühl sei, „für Opfer und Angehörige etwas getan zu haben“.
Denn, das weiß auch der Leiter der Dortmunder Ermittlungsgruppe Gregor Schmidt: „Die Angehörigen können nie abschließen.“ Aber weil Mord niemals verjährt, können Gerichte auch viele Jahre später noch Strafen verhängen. Was Staatsanwälte allerdings gut begründen müssen. Totschlag oder Raub mit Todesfolge, die mehr als 20 Jahre zurückliegen, reichen juristisch nicht für ein Verfahren. Bei Heike Kötting und Josef Milata fand Anklägerin Gülkiz Yazir indes Mordmerkmale: Die alten Spuren, sagt die Staatsanwältin, würden auf Heimtücke hinweisen oder darauf, dass die Täter einen Raub verdecken wollten. „Ohne das hätten die Ermittlungen eingestellt werden müssen.“
Erbgut allein reicht nicht aus, wenn die Daten noch nicht gespeichert sind
Allerdings fehlt in beiden Fällen ein zusätzlicher Verdächtiger: Aus den Tatortspuren liest die Polizei, dass bei Kötting ein dritter, bei Milata ein zweiter Täter vor Ort gewesen sein muss. DNA-Spuren gibt es indes keine, oder zumindest keinen Treffer in der Datenbank. Was aber nutzt auch den erfahrensten Kripoleuten das Erbgut von jemandem, der in keiner Datenbank gespeichert ist? Weil er vielleicht tot ist, im Ausland oder nie wieder aufgefallen ist – und also nicht erfasst?
Immerhin lasse sich auf solche Ansätze aufbauen: mit Fahndungsaufrufen, Umfeldermittlungen, Auftritten in der TV-Sendung „Aktenzeichen XY... ungelöst“. „Wir nutzen jede Chance“, beteuert Kripochefin Anika Uhlmann. Man nutze neue Methoden, Telefonüberwachung, Observationen... „Wir befragen erneut alle Zeugen, alle Kollegen, alle Hinweisgeber“, zählt Gregor Schmidt auf. Und sie untersuchen Hunderte Klebefolien, wie man sie früher an Leichen klebte oder in Fluchtfahrzeuge, um Fasern zu finden.
Manchmal können sie ein Alibi trotzdem nicht mehr klären, weil alle Erinnerung verblasst ist. Oft aber finden sich doch noch Zeugen, solche, die nie reden wollten, die sich nach Jahren doch noch entscheiden, ihr Gewissen zu entlasten. Schmidt erinnert sich an einen Fall, in dem einer lange einen Nachbarn nicht anschwärzen wollte, weil er der beste Fußballer im ganzen Kreis war. Aber, sagt Kripochefin Uhlmann, „für eine Aussage ist es nie zu spät“.
Deshalb ist auch der Mittwoch im Dortmunder Polizeipräsidium mehr als ein Tag, an dem die Ermittler ihre Erfolge präsentieren. Sie suchen diese geheimnisvollen Unbekannten, Täter oder Mitwisser, sie bitten um Mithilfe. Sie sagen, das sei man Opfern wie Hinterbliebenen schuldig. Nachdem solche Hinweise plus Erbgut sie zu einem der Verdächtigen im Fall Kötting geführt hatten, erwischten sie zu Jahresbeginn den Mann, als er gerade fliehen wollte: Die Reisetasche war schon gepackt.
Fall Lindemann, Fall Pierre Pahlke und die Babyleichen
Kollegen in Gelsenkirchen ließen erst Anfang dieser Woche einen privaten Garten umgraben, weil es Tipps zum Verschwinden der Polizistin Lindemann gab. Auch nach dem vermissten Pierre Pahlke hat die Polizei Essen in diesem Jahr erneut gesucht. Im Fall des elfjährigen Marc Gutte, der 1986 tot in einem Maisfeld in Unna gefunden worden war, sind die Cold-Cases-Experten den gesamten Tathergang noch einmal durchgegangen. Neue DNA-Analysen stehen derzeit aus.
Offen ist auch noch, wer die Eltern von zwei tot aufgefundenen Babyleichen sind. Ein Mädchen wurde 1999 in Dortmund, ein Junge 2005 in Krefeld entdeckt – die beiden sind Geschwister. Neben dieser Erkenntnis hat die Polizei die Kleidung der Babys und drei Briefe der unbekannten Mutter: geschrieben auf einem längst nicht mehr hergestellten Geschäftsbuch aus dem Osten, schwarze Linien, blaue Seitenzahlen. Die Ermittler vermuten, es müsse noch einen großen Bruder geben.
Im Fall der vor 26 Jahren ermordeten Anna Saußen aus Bergkamen (84) fand die Polizei heraus, woher die Leiter stammt, mit dem Einbrecher im Mai 1998 in ihr Haus einstiegen: Sie gehörte einem Apfelbauern aus der Gegend. Nach einem kürzlich ausgestrahlten XY-Beitrag über den Tod einer Dortmunder Prostituierten 1987 am Möhnesee und den Angriff auf eine 16-Jährige durch denselben Täter gab es vor wenigen Wochen einen neuen Tipp: Eine Frau erinnerte sich an einen Mann im Mercedes, vor denen der Straßenstrich sich vor drei Jahrzehnten fürchtete...
Was aber, wenn durch die ganze Ermittlungsarbeit Verdächtige dingfest gemacht werden, aber es für eine Verurteilung a, Ende nicht reicht? Rentner-Cop Ulrich Kayser ist nach 48 Dienstjahren da sehr entspannt. „Diese Entscheidung treffen andere. Mir reicht die feste Überzeugung, dass wir den Richtigen haben.“
Hinweise: Polizei Dortmund unter Tel.: 0231/132-7441.