Dortmund/Bergkamen. Neue Spuren führen die Ermittler zu einem ehemaligen Bergmann aus Bergkamen. Warum eine Jugendstrafkammer die Tat von 1986 verhandelt.

Es ist einer dieser Fälle, deren Akten seit Jahrzehnten in Behördenkellern verstaubten. Der Mord an Josef M. aus Bergkamen, in 38 Jahren nicht aufgeklärt. Bis die Dortmunder Ermittlungsgruppe „Cold Cases“, in der auch pensionierte Polizisten mitarbeiten, im Frühjahr endlich neue Spuren fand. Seit Dienstag steht vor dem Landgericht ein 56-Jähriger: Er soll den Rentner, damals 67, ermordet haben – zusammen mit einem immer noch unbekannten Mittäter.

Der Angeklagte kommt an einer Krücke, er humpelt. Graue Halbglatze, zwei Hörgeräte, dabei tagt diese 36. Straf- als Jugendkammer: Denn als Josef M. gefunden wurde in seinem Blut, war dieser Mann erst 18 Jahre alt. Ein Bergmann in Ausbildung, eingefahren an jenem 25. September 1986 zur Frühschicht auf Zeche Grimberg in Bergkamen. Es ist bis heute der Wohnort des Türken, und es war der des Opfers. Die beiden haben sich zumindest flüchtig gekannt.

Das war Josef M.: Der damals 67-Jährige wurde 1986 in seiner Wohnung ermordet. Jetzt steht ein Beschuldigter vor Gericht.
Das war Josef M.: Der damals 67-Jährige wurde 1986 in seiner Wohnung ermordet. Jetzt steht ein Beschuldigter vor Gericht. © Polizei Dortmund | Polizei Dortmund

Duo wollte Wertsachen stehlen und nicht auffallen

Das sagt der 56-jährige Familienvater in einer kurzen Einlassung, die sein Anwalt vorliest. Die Anklage zuvor ist noch kürzer, der erste Termin ist am Dienstag in einer guten halben Stunde vorbei. Die Staatsanwältin beschreibt in wenigen nüchternen Worten, was sie dem Mann vorwirft: Er soll mit einer weiteren Person in die Küche des Hauses eingedrungen sein, in dem M. wohnte. „In Tötungsabsicht“, weil das Duo Wertsachen stehlen und damit nicht auffallen wollte, soll einer dem Älteren 22 Stich- und Schnittverletzungen zugefügt, der andere ihn mit einem Elektrokabel gedrosselt haben.

Der 67-Jährige starb an seinen schweren inneren Verletzungen und Blutungen unter anderem im Gehirn, wo die Waffe ebenfalls eingedrungen war. Die Täter nahmen seine Geldbörse mit, weiter nichts. Inhalt: 430 Deutsche Mark. Wie aus früheren Meldungen der Polizei bekannt ist, fand der Pflegesohn die Leiche, als er nachts aus der Disco kam. Es war ein Donnerstag, heiter, aber herbstlich kühl.

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Der Angeklagte will sich genau erinnern an jenen Tag, man habe viel gesprochen auf der Schicht über den toten Deutschen, liest sein Verteidiger vor. Nur muss das schon am Freitag gewesen sein, Schichtbeginn um sechs, wie immer fuhr der junge Türke mit dem Fahrrad hin. Am Vorabend habe er zunächst in der Teestube neben einer Spielhalle Freunden beim Kartenspielen zugesehen, gegen 18 Uhr habe man draußen geraucht.

Eingeladen zu „Spaß“ mit Prostituierten

Da habe ein Freund – die Namen kann der 56-Jährige noch nennen – von einem deutschen Mann erzählt, der regelmäßig Prostituierte im Haus habe und ihn eingeladen habe, ebenfalls „Spaß zu haben“. Zu dritt seien sie hingefahren, Josef M. habe draußen auf sie gewartet, ihnen mit dem Finger auf den Lippen bedeutet, leise zu sein, um im Obergeschoss niemanden zu stören. In dem Moment will der Angeklagte ihn erkannt haben: als eine Zufallsbekanntschaft ein paar Tage zuvor in der „Jahnstube“ gegenüber.

Prozess um einen Mord vor 38 Jahren
Schwer gebeugt auf der Anklagebank: der ehemalige Bergmann vor dem Dortmunder Landgericht. © DPA Images | Bernd Thissen

Was gesprochen wurde in der Küche, habe er nicht alles verstanden; sein Deutsch sei damals noch nicht gut gewesen. Wohl habe er Ärger bemerkt: Die angekündigten Frauen waren gar nicht da. Josef M. soll telefoniert und sie auf zwei Stunden später vertröstet haben. Der damals 18-Jährige aber habe „nur noch nach Hause“ gewollt. Seine Geschichte endet mit einem weiteren zufälligen Treffen: Vor der Tür habe ein anderer Freund gestanden neben dem Auto seiner Freundin, die beiden hätten ihn heimgefahren. Fernseher an, Essen, zum Tatzeitpunkt gegen 22 Uhr will der junge Bergmann bereits geschlafen haben.

Für diese Version bringen seine Rechtsanwälte eine vier Tage alte Bestätigung des vermeintlichen Freundes aus Istanbul mit. Dessen Anwalt hat einen Brief geschickt, in dem der einst aus Deutschland abgeschobene Mann die Geschichte mit dem Auto, der Freundin, der Fahrt nach Hause bekräftigt.

War das Erbgut im Trockentuch?

Auch dafür, dass die Ermittler nach all den Jahren auf den Bergkamener stießen und ihn unter anderem durch einen DNA-Abgleich überführt sehen, hat der Mann eine Erklärung. Er habe damals in der Küche Cola getrunken und etwas verschüttet, sich deshalb die Hände waschen und abtrocknen müssen. Warum er das berichtenswert findet, wird erst in der Beweisaufnahme thematisiert werden: War sein Erbgut auf dem Trockentuch?

In diesem Wohnhaus in Bergkamen entdeckte der Pflegesohn eines 67-Jährigen vor 38 Jahren dessen Leiche.
In diesem Wohnhaus in Bergkamen entdeckte der Pflegesohn eines 67-Jährigen vor 38 Jahren dessen Leiche. © Polizei Dortmund | Polizei Dortmund

Bei Befragungen vor fast 40 Jahren hatte der heute 56-Jährige abgestritten, das Opfer gekannt zu haben und jemals in dessen Wohnung gewesen zu sein. Er habe, lässt er vor Gericht erklären, nicht in den Verdacht kommen wollen, homosexuell zu sein. Denn tatsächlich sei es wohl damals nicht um weibliche Prostituierte gegangen. Vielmehr sei Josef M. dafür bekannt gewesen, sich gern junge türkische Männer einzuladen. „Das war mir sehr peinlich.“ Und peinlich sei das bis heute – für einen glücklich verheirateten Vater zweier Kinder.

Der Prozess geht nach den Herbstferien weiter. Bis dahin suchen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung Adressen von Zeugen. Viele Anschriften haben sich in den Jahren geändert, ein Mann, der eigentlich aussagen sollte, ist inzwischen verstorben. Weitere sieben Prozesstage sind angesetzt, ein Urteil könnte Ende November fallen.