Berlin. Bei Mädchen und Frauen wird ADHS oft nicht diagnostiziert. Probleme macht es ihnen dennoch. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

  • ADHS wird bei Frauen oft übersehen, trotz klarer Symptome
  • Behandlung und Begleiterkrankungen von ADHS variieren geschlechtsspezifisch
  • Frauen mit ADHS kämpfen häufig mit Unaufmerksamkeit und Konzentrationsproblemen

Nicht erst seit Eckart von Hirschhausens Bekenntnis, dass auch er ADHS hat, ist die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung in aller Munde. Denn: Wie Hirschhausen geht es vielen Erwachsenen – auch vielen Frauen. „Bei Mädchen und Frauen wird ADHS aber noch deutlich seltener entdeckt“, betont Hanna Christiansen, Leiterin der ADHS-Ambulanz für Erwachsene an der Philipps-Universität Marburg. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie viele Frauen sind von ADHS betroffen?

Insgesamt haben in Deutschland Schätzungen zufolge etwa zwei Millionen Erwachsene ADHS. Sieht man sich die Zahl der Diagnosen an, zeigt sich nicht nur im Kindes-, sondern auch noch im Erwachsenenalter ein merklicher Unterschied zwischen den Geschlechtern.

„Auf eine Frau mit ADHS-Diagnose kommen im Schnitt 1,5 bis 2 Männer“, erklärt Alexandra Philipsen, Chefärztin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Damit nähert sich die Häufigkeit im Gegensatz zum Kindesalter an. Konkrete Zahlen zur Dunkelziffer von weiblichen Betroffenen gibt es nicht.

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„Wir wissen aus sogenannten epidemiologischen Daten – also Studien mit diagnostischen Untersuchungen an repräsentativen Stichproben –, dass in der Allgemeinbevölkerung die Häufigkeit von ADHS im Erwachsenenalter zwischen zwei und drei Prozent liegt“, erklärt DGPPN-Vorstandsmitglied Andreas Reif die Gesamtsituation. „Davon ist aber nicht einmal jeder Hundertste diagnostiziert. Das weist darauf hin, dass wir im Bereich der Erwachsenen generell eine Unterdiagnostik haben.“

ADHS: Die wichtigsten Infos über die Krankheit

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    Wie unterscheiden sich ADHS-Symptome bei Frauen im Vergleich zu Männern?

    Bei Mädchen und Frauen mit ADHS ist deutlich häufiger die unaufmerksame Form der Störung zu finden. Bei Jungen und Männern ist es dagegen eher die besser bekannte hyperaktive und impulsive Form. „Bei weiblichen Betroffenen steht also häufig nicht die stark beobachtbare motorische Unruhe im Vordergrund“, erklärt ADHS-Expertin Christiansen.

    Typische ADHS-Symptome bei Frauen:

    • innere Unruhe
    • Stimmungsschwankungen
    • Impulsivität
    • leichte Ablenkbarkeit
    • schnelles Abschweifen
    • Tagträumerei
    • Deadlines nicht einhalten
    • nicht gut zuhören können
    • Unpünktlichkeit
    • Schwierigkeiten, Prioritäten zu setzen

    „Wenn es nicht gelingt, die Aufmerksamkeit und Konzentration aufrechtzuhalten – durchgängig schon in der Schule, Ausbildung oder etwa im Studium –, sind das mögliche Anzeichen für ADHS“, so Philipsen, die sich bereits seit Ende der 90er-Jahre intensiv mit dem Thema ADHS im Erwachsenenalter auseinandersetzt.

    Sie ergänzt, dass ADHS bei Mädchen und Frauen häufiger zu emotionalen Belastungen führe. Wie bei allen psychischen Entwicklungsstörungen und Erkrankungen gelte auch bei ADHS: „Die Ausprägungen sind jedoch, egal ob Mann oder Frau, individuell.“

    Warum wird ADHS bei Mädchen und Frauen seltener erkannt?

    „Jungen fallen insbesondere in der Schule durch die häufig hyperaktive Ausprägung mit starkem Bewegungsdrang störend auf“, sagt ADHS-Expertin Christiansen. Lehrkräfte und Eltern würden so hellhörig. Betroffene Mädchen säßen dagegen oft eher still und verträumt in der Klasse, wenn sie sich nicht auf den Unterrichtsinhalt konzentrieren können. Das fällt weniger auf und stört und beeinträchtigt das Umfeld meist auch nicht.

    „An eine potenzielle ADHS-Diagnose wird bei betroffenen Mädchen daher häufig überhaupt nicht gedacht“, so Christiansen. Sie mahnt daher, den eigenen Blick zu weiten – egal ob Eltern, Pädagogen oder medizinische Fachkraft – und kritisiert auch den eigenen Berufsstand. „Hier müssen wir sensibler in unserer Diagnostik werden.“ Zudem zeigt Philipsens Erfahrung, dass Mädchen und Frauen mit ADHS oft besser in der Lage sind, soziale Normen und Erwartungen zu erfüllen, indem sie sich anpassen und die Symptome maskieren. „Das erschwert die Diagnose zusätzlich“, so die Expertin.

    Hanna Christiansen, Leiterin der ADHS-Ambulanz für Erwachsene an der Philipps Universität Marburg, findet, dass psychische Erkrankungen wie ADHS zum Leben einfach dazugehören.
    Hanna Christiansen, Leiterin der ADHS-Ambulanz für Erwachsene an der Philipps Universität Marburg, findet, dass psychische Erkrankungen wie ADHS zum Leben einfach dazugehören. © privat | Privat

    ADHS bei Mädchen und Frauen: Was kann bei der Diagnosefindung helfen?

    Christiansen rät nicht nur mit Erwachsenen, sondern auch mit Kindern und Jugendlichen persönlich zu sprechen. „Leider gibt es die Tendenz, dass wir Kinder nicht systematisch selbst befragen – insbesondere nicht vor dem elften Lebensjahr“, so die Psychologin. „Gerade wenn es um innere Zustände geht – und Aufmerksamkeit ist ja ein innerer Zustand–, dann können das die Kinder häufig selber viel besser beurteilen und berichten.“

    Zudem müssten sich Diagnostiker und Diagnostikerinnen die Stereotype stärker bewusst machen, denen sie unweigerlich ausgesetzt seien, betont Christiansen. „Mädchen gelten als emotionaler. Daher steht bei ihnen die Depression im Vordergrund. Jungs dagegen gelten eher als Rabauken. Dadurch stehen bei ihnen ADHS und Störungen im Sozialverhalten im Vordergrund – typische Geschlechterstereotype, bei denen wir sehr aufpassen müssen.“

    Entscheidend ist laut den Expertinnen aber eben auch, dass sich die Symptome bereits seit Kinder- und Jugendtagen durchziehen. „Diese müssen bereits vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sein – und zwar in klinisch bedeutsamem Ausmaß“, erklärt Christiansen. „Sonst kann die Diagnose nicht gestellt werden.“

    Was, wenn die ADHS-Symptome zutreffen, aber nicht dauerhaft bestehen?

    „Treten die beschriebenen Symptome nur episodisch auf oder erst später im Leben, werden die Probleme vermutlich durch etwas anderes ausgelöst“, betont Philipsen. „Eine solche sogenannte Pseudo-ADHS kann viele Ursachen haben – physische wie psychische.“ Als Beispiele nennt Philipsen Unfälle, die etwa Schäden im Gehirn verursacht haben könnten.

    Mit ADHS vergleichbare Symptome können laut der Expertin unter anderem auch bei einer Schilddrüsenunterfunktion, dem Schlafapnoe-Syndrom mit nächtlichen Atempausen, Eisenmangel sowie etwa bei einer Depression oder Angststörung bestehen. „Gerade bei Frauen wird ADHS auch gerne mit Borderline verwechselt, da die Symptome überlappen“, so Philipsen.

    Unterscheidet sich die Behandlung von ADHS bei Frauen und Männern?

    Eigentlich nicht, erklären die Expertinnen. Eine bundesweite Auswertung von Krankenkassendaten, die im Ärzteblatt veröffentlicht wurde, zeigt jedoch, dass Männer häufiger ADHS-Medikamente verschrieben bekommen als Frauen. Der Grund dafür könnte laut Philipsen in den sichtbareren Verhaltensauffälligkeiten liegen.

    Zur Behandlung werden aktuell nach wie vor oft Präparate mit dem Wirkstoff Methylphenidat eingesetzt. Dazu gehört auch das wohl bekannteste ADHS-Medikament namens Ritalin. Allerdings gibt es auf dem Markt mittlerweile zahlreiche Alternativen, die individuell besprochen werden sollten.

    Alexandra Philipsen beschäftigt sich seit Ende der 90er-Jahre mit ADHS im Erwachsenenalter.
    Alexandra Philipsen beschäftigt sich seit Ende der 90er-Jahre mit ADHS im Erwachsenenalter. © privat | Tatjana Dachsel

    Gerade mit Blick auf Unaufmerksamkeit würde eine Medikation aber auch Patientinnen entgegenkommen, meint Philipsen, da diese besonders auf die Ablenkbarkeit positiv einwirke. „Dass Frauen im Anschluss an verhaltens- und psychoedukative Schritte aktuell noch seltener Medikamente erhalten, ist daher nicht gerechtfertigt.“

    „Unaufmerksamkeit gehört zu den ADHS-Symptomen, die nur unglaublich schwierig kompensiert werden können, da es der willentlichen Verhaltenskontrolle am wenigsten unterliegt“, ergänzt Philipsen. „Hier kann es einzelnen Menschen helfen, Achtsamkeitsübungen zu erlernen oder auch zu meditieren und dabei zu versuchen, gezielt und regelmäßig die Aufmerksamkeit zu trainieren.“

    Sie rät zudem alle Aufgaben in mehrere kleine und überschaubare Teile zu unterteilen, um Arbeitsphasen zu verkürzen. „Auch Umgebungsfaktoren wie Arbeitsplatz und Lärmpegel spielen bei ADHS und ADS eine große Rolle“, so Philipsen. All das zu berücksichtigen könne helfen.

    Welche typischen Begleiterkrankungen gibt es bei Frauen mit ADHS?

    Bei allen Menschen mit ADHS steigt das Risiko für weitere psychische und körperliche Erkrankungen. Bei Frauen sind unter anderem relevant:

    Zudem kann es nicht nur zu einer Verwechslung, sondern durch ADHS auch zur Entwicklung einer Borderline-Störung kommen. Diese geht mit Selbstverletzungen und starken Gefühlsschwankungen einher. „Wir sprechen hier von sogenannter emotionaler Instabilität“, erklärt Philipsen. Das sei wichtig zu wissen.