Essen. Bestseller-Bücher, der „Tatort”, True-Crime-Podcasts: Millionen Deutsche fasziniert der Nervenkitzel. Aber was zeichnet einen guten Krimi aus?
Sylt im Morgengrauen, im Strandhaus fallen Schüsse. Ein Ehepaar aus Duisburg ist tot. Der wasserscheue Küstenpolizist tappt im Dunkeln. Bis eine mysteriöse Frau anruft… So ähnlich lesen sich die Klappentexte vieler Krimis, die Fans als Strandlektüre, im Bett oder in der Badewanne verschlingen.
Auch im Fernsehen laufen Krimis in Dauerschleife, tagtäglich werden spektakuläre Fälle von Kommissarinnen und Kommissaren, privaten Ermittlern oder Hobby-Detektiven mit überraschendem Ergebnis gelöst. Und die Leser dürfen mitraten – nicht umsonst wird der Krimi im Englischen auch „Whodunnit?“ genannt, also: „Wer war es?“
Dass Kriminalroman und Spannung zusammengehören, zeigen auch alltägliche Redewendungen, zum Beispiel wenn im Sport ein „Elfmeter-Krimi” ansteht. Manchmal sagen wir auch: „Das ist ja wie im Krimi!“. Doch der Erfolg des Katz-und Maus-Spiels zwischen Täter und Ermittler beruht nicht nur darauf: das populäre Genre hat mehr als reine Spannung zu bieten.
Krimi-Plots leben von lebendigen Milieuschilderungen
Natürlich handeln Krimis immer von Verbrechen und deren Aufklärung, siehe das lateinische Wort „Crimen“, also „Verbrechen“. Gute Krimis schildern aber nicht allein den Mordfall, sondern Milieus, Typen, Phänomene. „Alle Bücher sind ein Spiegel der Gesellschaft ihrer Zeit, auch Krimis”, sagt Klaus Maria Dechant, Vorstand für Kommunikation bei „Syndikat”, dem 1986 gegründeten Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur. Das mache auch historische Krimis so interessant.
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Als Beispiel nennt Dechant den Roman „Vorboten” von Jürgen Heimbach, der in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg spielt. „Historische Krimis geben einen Einblick in die damalige Zeit, man riecht und schmeckt die Geschichte.”
„Krimis sind das beliebteste Genre der Deutschen“
„Krimis sind nach wie vor das beliebteste Genre der Deutschen”, stellt der Experte fest, der auch selbst Krimiautor ist. Frauen würden rund 70 Prozent der Leserschaft ausmachen, wohingegen Hörbücher eher von Männern konsumiert würden. Lange habe die Literaturkritik Krimis als trivial abgetan: „In letzter Zeit ändert sich das.”
Für die hohe Beliebtheit von Krimis, die Bestseller-Listen und TV-Quoten dominieren, gibt es viele Gründe. Einer ist die Vielfalt des Genres. „Ein guter Krimi kann im Grunde alles erzählen,” analysiert Dechant. „Es geht um Ängste und Hoffnungen, Versuchung, Mord und Totschlag.
Aber es sind auch Liebesgeschichten möglich, das Einbringen kulinarischer Aspekte und mehr.” Der Übergang zum Thriller sei fließend. „Man kann aber sagen, dass in klassischen Krimis die Ermittlungsarbeit im Vordergrund steht. In Thrillern ist das häufig eher Beiwerk, es geht mehr um psychologische Abgründe.”
Ganz ähnlich beschreibt es Joachim von Gottberg, emeritierter Professor für Medienwissenschaft, der zuletzt an der Uni in Halle lehrte. „Der Vorteil bei Krimis ist, dass man ein Grundgerüst hat, mit dem man praktisch alle politischen, privaten, sexuellen, geldgierigen oder machtorientierten Eigenschaften erzählen kann.” Krimis könnten auch informieren, indem sie auf unterhaltsame Weise Einblicke in bestimmte Milieus geben. „Es gibt kein Thema, das sich im Krimi nicht behandeln lässt.”
Von den Anfängen mit Edgar Allan Poes genialem Hobby-Detektiv Dupin oder Conan Doyles Superhirn Sherlock Holmes im 19. Jahrhundert bis heute hat sich das Genre weit aufgefächert. Inzwischen gibt es zig Untergattungen, darunter Krimis für Kinder („TKKG”), Gesellschaftsspiele mit kriminalistischem Hintergrund oder Krimi-Dinner. Auch im Kino haben sich seit dem kurzen Stummfilm „Sherlock Holmes Baffled” (erschienen 1900) bis zu modernen Thrillern wie „Sieben” (1995) zahlreiche Varianten etabliert.
Keine klare Trennung von Gut und Böse
Beim Blick in die Genre-Geschichte fällt auf, dass Täter und Ermittler heute oft zwiespältiger sind. Die einst klare Trennung von Gut und Böse weicht komplexeren Darstellungen. Obwohl genial-verrückte Superschurken wie etwa der berühmte Widersacher von Sherlock Holmes, Professor Moriarty, auch noch ihren Reiz besitzen.
Weil das Grundschema so klar umrissen ist, eignen sich Krimis auch gut für Parodien. So hat Klaus Maria Dechant unter dem Pseudonym Til Petersen zuletzt die Krimisatire „Fahr nicht fort, stirb am Ort!” verfasst. Darin geht es um einen Bestatter mit Geldsorgen, der eine Kettenreaktion auslöst, die ihn zum Mörder wider Willen macht.
Mordparagraf § 211: Mordlust, Habgier und Heimtücke
Ein Blick ins Strafgesetzbuch gibt Hinweise auf die emotionale Wucht, von der Krimis erzählen. Im Mordparagraf § 211 heißt es: „Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.”
Vor Gericht muss mindestens eins dieser Mordmerkmale erfüllt sein, damit wegen Mordes verurteilt wird. Schon die „niedrigen Beweggründe” geben von Wut über Eifersucht bis hin zu Hass so ziemlich alles her, was zwischen Buchdeckeln oder auf der Mattscheibe für Aufregung sorgt. Die Bandbreite an Emotionen ist groß.
Die Spannung oder Angstlust kann auf unterschiedliche Weisen erzeugt werden, etwa durch innere und äußere Konflikte, durch bedrohliche Situationen oder die geschickte Verteilung der Informationen. So kultivierte der Thriller-Regisseur Alfred Hitchcock das Konzept der „Suspense” als Verfeinerung der Spannung. Hitchcock erklärte das am Beispiel einer Autobombe.
Wissen die Zuschauer nichts davon, sorgt die plötzliche Detonation für einen Schock. Genüsslicher wird die Spannung aber ausgereizt, wenn das Publikum, anders als die Figur, von Anfang an von der Bombe weiß. Dann bleibt der Nervenkitzel bis zur Explosion konstant – und jeder noch so banale Ampelstopp steigert die Spannung.
Krimis sorgen für Entspannung
Auch wenn Krimis Gewalt in Szene setzen, sorgen sie letzten Endes für Entspannung. „Die Wirkung ist psychologisch interessant,” erörtert Klaus Maria Dechant. „Krimis werden in einem Schutzraum gelesen, gehört oder geschaut. Man betrachtet die Gefahr aus einer sicheren Position heraus.” Dechant vergleicht das mit einer Glasbodenfahrt durch ein Riff voller Haie.
Ein zentrales Element sei der gute Ausgang der Geschichte. „Am Ende siegt die Gerechtigkeit.” Nur ganz selten komme der Täter davon. „Die Leserschaft tut sich schwer damit, wenn ein Fall nicht klar gelöst wird.” Schließlich gehört auch das Miträtseln zum Krimi. „Man will überprüfen, ob man richtig lag.”
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Genau das betont auch der Medienwissenschaftler Gottberg: „Ein Krimi bietet uns immer die Möglichkeit zu spekulieren.” Tatsächlich korrespondiert der hohe Ermittlungserfolg in Krimis mit der polizeilichen Realität. Laut Statista lag die polizeiliche Aufklärungsquote bei vollendetem Mord im Jahr 2022 bei 94,8 Prozent. Generell würde die Aufklärungsquote bei diesem Kapitalverbrechen „typischerweise über 90 Prozent, teilweise sogar deutlich darüber” liegen. Krimis legen also nur noch die letzten Prozentpunkte drauf, um dem Recht auf die Sprünge zu helfen.
Krimis als moralische Geschichten
Professor Gottberg sieht in Krimis auch moralische Geschichten. „Oft wird kritisiert, Krimis könnten eine Faszination für das Verbrechen auslösen.” Allerdings sei das Ganze umgedreht, im Vordergrund stünde gar nicht das Verbrechen, sondern tatsächlich dessen Aufklärung. „Krimis sind letztlich Moralgeschichten,” so Gottberg. „Die moralische Botschaft lautet: Gewalt und Verbrechen lohnen sich nicht, höchstens kurzfristig.”
Hoher Beliebtheit erfreuen sich sogenannte Regionalkrimis, auch Heimat-, Lokal- oder kurz Regiokrimis genannt. Die Handlung spielt in einer klar umrissenen Region, deren Besonderheiten in die Erzählung einfließen. Es gibt Eifel- oder Rheinkrimis, welche, die an der Nordsee spielen, im Allgäu oder an beliebten Reisezielen der Deutschen. Bei Kriminalfällen in der Provinz kommt hinzu, dass dort in der Regel sehr viel seltener Verbrechen geschehen und die Gemeinschaft daher umso aufgeschreckter reagiert.
Klaus Maria Dechant mag die Bezeichnung „Regionalkrimi” nicht besonders, denn letztlich würden alle Krimis irgendwo spielen. Dennoch gibt die regionale Einordnung einen Vorgeschmack auf das jeweilige Lokalkolorit. „Es hat einen gewissen Reiz, wenn man schon mal an diesen Orten war oder vorhat, demnächst dorthin zu fahren,” so Dechant, der eine besonders hohe Nachfrage an „Urlaubskrimis” bemerkt, die den Ortsbezug schon im Titel haben. Man wundert sich fast, dass Tourismusregionen solche Texte nicht selbst bei PR-Agenturen in Auftrag geben.
Die „Tatort”-Reihe setzte von Anfang an auf die lokale Verankerung der Kriminalfälle, was sich schon durch die Involvierung regionaler Sendeanstalten des ÖRR ergibt. So trägt das 1981er Debüt des kantigen Ermittlers Horst Schimanski mit „Duisburg-Ruhrort” das Viertel im Namen, wo die Leiche eines Binnenschiffers gefunden wird. Konsequenterweise taucht der von Götz George gespielte Kommissar besonders tief ins örtliche Milieu ein.
Ruhrgebiets-Krimis als großer Erfolg
Ebenfalls im Ruhrgebiet ließ die Autorin Gabriella Wollenhaupt die Journalistin Maria Grappa ermitteln. Dortmund heißt in den Grappa-Krimis „Bierstadt”, die Fälle kreisen um lokale Probleme von Arbeitslosigkeit bis Clankriminalität. Wer genau hinschaut – etwa bei den Automarken, die die Kommissare fahren – erkennt aber auch die Gesetze des modernen Product-Placements: auch der Tatort wird dazu instrumentalisiert, Konsumwünsche zu wecken.
Horst Schimanski wurde in den 1980er Jahren ironischerweise aber auch zum Markenbotschafter für Hustenbonbons, was für lebhafte Diskussionen sorgte.
Als gegenwärtigen Trend identifiziert Klaus Maria Dechant „Feelgood-Krimis”. Im Fernsehen würden das unter anderem die vielen „SOKO”-Serien bedienen. „Obwohl es um Verbrechen geht, soll sich das Publikum wohlfühlen. Es soll keinesfalls zu brutal zugehen, Kinder oder Tiere sind tabu.”
Doch es gibt auch einen gegenläufigen Trend dazu: „Immer brutalere Schilderungen, die vor allem in Österreich verbreitet sind – zum Beispiel in ,Totenfrau’ von Bernhard Aichner.” Verlage wie Redrum Books hätten sich darauf spezialisiert.
WAZ-Gerichtsreporter begab sich auf die Spur wahrer Fälle
In den letzten Jahren sind zudem True-Crime-Formate – etwa bei Netflix oder in Form von Podcasts – sprunghaft angestiegen. Darin werden reale Kriminalfälle nacherzählt und mit Hintergrundwissen angereichert, wodurch auch Grundsätze des Rechtssystems vermittelt werden. „Die Beschäftigung mit wahren Verbrechen liegt im Trend,” berichtet Dechant. Manchmal sind auch fiktive Krimis von realen Fällen inspiriert. „Tina Seel hat sich für ,Der Tod der dreckigen Anna’ an einem realen Fall orientiert. Natürlich wurden die Namen der Beteiligten geändert und das Geschehen um Fiktion angereichert.”
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Ein Podcast über echte Fälle aus Nordrhein-Westfalen ist „Der Gerichtsreporter” mit dem vor kurzem verstorbenen WAZ-Gerichtsreporter Stefan Wette. Thema einer Folge war beispielsweise der Serienmörder Peter Kürten, der in den 1920er-Jahren als „Vampir von Düsseldorf” Angst und Schrecken verbreitete. Ähnliche Formate senden sämtliche regionale Anstalten, Beispiele sind „Verurteilt! Der Gerichtspodcast” aus Frankfurt am Main oder „Sprechen wir über Mord?!” mit dem früheren Bundesrichter Dr. Thomas Fischer. Als „Urform” dieser Formate sieht der Medienwissenschaftler Joachim von Gottberg das seit 1967 ausgestrahlte ZDF-Format „Aktenzeichen XY… ungelöst”.
Ein Ende der Krimi-Beliebtheit in Deutschland und anderen Ländern ist nicht abzusehen – allein schon, weil Autorinnen und Autoren so flexibel immer neue Aspekte in das bekannte Grundgerüst einbringen können. „Das Genre wurde schon vor Jahrzehnten totgesagt“, sagt Klaus Maria Dechant. „Aber es stirbt einfach nicht.“
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