Duisburg. Mehr als 100 Hafenlokale machten Duisburg-Ruhrort einst zum berüchtigten Vergnügungsviertel. Auf den Spuren der Matrosen.
Die alten Holzbänke sind mit bunten Schriftzügen verziert, an den Wänden hängen Akkordeons. Es riecht nach Rouladen und Frikadellen. Wer die Taverne von Michael (79) und Gunda Scholz (72) betritt, begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit – und zwar in die Zeit, als jeden Tag etliche Schiffe am Ruhrorter Hafen anlegten. Als Matrosen und Binnenschiffer durch die kleinen Gassen strömten und die Geschäfte florierten. Als Ruhrort noch ein berüchtigtes Vergnügungsviertel war. Das St. Pauli des Ruhrgebiets.
Als Michael und Gunda Scholz – die hier alle nur „Mike und Maus nennen“ – vor 53 Jahren ihre Taverne eröffneten, „war die Schifffahrt noch groß“, erinnert sich der gelernte Koch: „Die Gäste standen abends in Dreierreihe hinter der Theke. Da ging es schon jauchzend hin und her, jeder Geburtstag wurde drei Mal gefeiert.“
Mehr als 120 Hafenlokale in Duisburg-Ruhrort
Dabei war die Konkurrenz groß. Von Rotlicht-Spelunken über gut bürgerliche Gaststätten bis hin zu schicken Varietés: Zu Hochzeiten soll es in Ruhrort über 120 Lokale gegeben haben. „Es laufen hier jährlich an die 9000 Schiffe ein und aus“, heißt es im Bericht der Stadt aus dem Jahr 1875. Deren „Bemannung“ würde die Wirtshäuser regelmäßig aufsuchen und auch ihre „Branntwein-Bedürfnisse für die Reisen hier entnehmen.“ Der Handel mit Kohle machte den Ruhrorter Hafen groß, der Hafen machte die Kneipenszene groß.
„Ruhrort war einmal der reichste Stadtteil Deutschlands“, erzählt Dagmar Dahmen. Die Journalistin und Gästeführerin besucht während ihrer Kneipen-Kiez-Tour die Orte, die noch heute „ganz viel Nostalgie-Faktor“ haben. Da wäre zum Beispiel das gelbe Haus in der Fabrikstraße, das als unscheinbares Wohnhaus daherkommt – aber einst eine der berühmtesten Anlaufstellen im Viertel war. Mit Federboa empfing „Tante Olga“ hier ihre Gäste. „War es auch ein Rotlicht-Etablissement? Darüber streiten sich die Gelehrten. Fest steht: Es war auch eine Musik-Pinte, in der richtig gute Bands aufgetreten sind“, erzählt Dahmen.
Die Lords und Udo Lindenberg in Duisburger Lokalen
Die Rockband „Lords“ und Benny Quick mit seinem Hit „Motorbiene“ standen hier auf der Bühne, Udo Lindenberg am Tresen. „Bei einem Konzert so um seinen 70. Geburtstag rum hat er einmal gesagt: ,Ich habe die Hautevolee in Düsseldorf kennengelernt und die Unterwelt bei Tante Olga in Ruhrort’“, sagt Dahmen.
Mindestens genauso bekannt wie „Tante Olga“ ist „Zum Anker“. Die Gaststätte hat ihren Ruhm allerdings nicht einer Inhaberin zu verdanken, die für sich allein schon Mythos genug ist, sondern dem Duisburger Tatort. Götz George ist hier in seiner Rolle als Hauptkommissar Horst Schimanski oft eingekehrt, hat Muscheln gegessen und Bier getrunken.
Den Anker gibt es auch heute noch, allerdings nicht mehr als düstere Hafenspelunke. Jenny Breitkopf (25) hat die Kultkneipe als „Ankerbar“ neu eröffnet. Nun wird hier keine Currywurst mehr serviert, sondern Pasta und Pizza. Die Holzvertäfelung und die Fotos an den Wänden, die den Ruhrorter Hafen und Schminaksi zeigen, erinnern aber noch an die Vergangenheit. Ebenso wie der Tresen, an dem auch an diesem Dienstagnachmittag Gäste ihr frisch gezapftes Bier genießen und sich über den neuesten Tratsch im Viertel austauschen. Genau wie früher.
„Die Kneipen waren wichtige, vielleicht die wichtigsten Orte, um sich von den Mühen des Tages wenigstens kurzzeitig zu erholen, um sich mit Kollegen, Freunden und Bekannten auszutauschen oder um ein wenig abzuschalten und für einen kurzen Moment Ablenkung zu finden“, sagt Andreas Pilger, Institutsleiter des Duisburger Stadtarchivs. Die Lokale boten Flucht aus dem Alltag, der meist trist war.
Graciano Rocchigiani, Christoph Daum und Götz George als berühmte Gäste
Denn Ende des 19. Jahrhunderts lag die Arbeitszeit eines Fabrikarbeiters bei etwa zwölf Stunden am Tag. „Gegessen und geschlafen wurde in kleinen Wohnungen oder Kajüten auf engstem Raum mit in der Regel vielen anderen Personen – Familienmitgliedern, aber auch Fremden“, so Pilger. Die Hafenkneipen wurden für viele zum Zufluchtsort, zum gemütlichen Wohnzimmer. Und für die Schifffahrer wurden sie zum Zuhause an Land. „Jeder hatte seine eigene Stammkneipe und die wurde dann auch zur Heimatadresse. Hier haben die Schifffahrer zum Beispiel ihre Post hinschicken lassen“, erzählt Stadtführerin Dagmar Dahmen.
Unter den zahlreichen Menschen, die damals durch die kleinen Gassen strömten, waren auch viele Prominente: In der Postkutsche verkehrten Politiker und Millionäre aus Düsseldorf, in der Taverne von „Mike und Maus“ standen später Box-Legende Graciano Rocchigiani oder Fast-Fußball-Nationaltrainer Christoph Daum am Tresen. „Auch Schimmi haben wir hier beköstigt. Wenn er gekommen ist, hat er immer gesagt: ,Mike, mach deine Rinderrouladen!’ Das war schon enorm“, erinnert sich Michael Scholz.
Seine Taverne ist noch heute Anlaufpunkt im Viertel, viele Vereine haben hier ihren Stammtisch. „Als letztens Gäste durch die Tür kamen, haben sie gerufen: ,Onkel Mike und Tante Maus sind ja immer noch hier!’ Das waren die Kinder der Schiffs-Familien, die heute erwachsen sind und sich noch an uns erinnert haben“, erzählt Gunda Scholz.
Ihre Gäste sind mit ihnen alt geworden. Vor Kurzem hat eine Schiffsfahrerin noch einmal am Hafen angelegt, um ihren 70. Geburtstag in der Taverne zu feiern. Danach hat sie ihr Schiff verkauft.
Generell ging es Ende des 20. Jahrhunderts bergab mit der Kneipenszene in Ruhrort. Mit der Ausbreitung des Hafens legten immer weniger Schiffe direkt in Ruhrort an. In den Lokalen wurde es leerer. Bereits Mitte der 1980er-Jahre gab es nur noch 46 Gaststätten im Viertel. Heute sind es noch weniger. Doch der Kneipen-Mythos in Ruhrort ist noch nicht gänzlich untergegangen. Dafür sorgen Wirte wie „Mike und Maus“.
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