Essen. Essener Start-up misst „sehr kritische Werte“ bei der mentalen Gesundheit. Warum darunter die Produktivität der Unternehmen leidet.
Die Forderung von Allianz-Chef Oliver Bäte, Arbeitnehmern am ersten Krankheitstag den Lohn zu streichen, hat Wellen geschlagen. Nun kontert auch das Essener Start-up Spexa, das Daten über den Gesundheitszustand der Beschäftigten in Unternehmen erhebt, und erklärt, wo die eigentlichen Gründe für hohe Krankenstände in den Betrieben liegen.
Marc Sommer saß jahrzehntelang selbst auf der anderen Seite des Schreibtischs und kennt die Realität in großen Unternehmen. Er hat den Bertelsmanns Buchclub geleitet, war Vorstand bei Karstadt und führte die nachhaltige Modekette Hessnatur. Jetzt sagt der Mülheimer mit einer Portion Empörung: „Es stimmt einfach nicht, dass die Menschen zu faul sind oder nicht bereit zu arbeiten.“
Allianz-Chef: Deutschland ist „Weltmeister bei Krankmeldungen“
Mit seiner Einschätzung verlässt sich Sommer keineswegs allein auf sein Bauchgefühl. Sein Start-up Spexa, das er im Jahr 2021 gemeinsam mit Wolfgang Köning gegründet hat, besitzt inzwischen Daten über die mentale und physische Gesundheit von Beschäftigten in 90 Unternehmen und hat damit einen Überblick, wie es den Mitarbeitenden geht. Die Spexa-Geschäftsführer widersprechen dem Allianz-Chef Bäte gar nicht, der jüngst kritisiert hatte, Deutschland sei mit durchschnittlich über 20 Tagen „Weltmeister bei den Krankmeldungen“. Die Konsequenz daraus, Kranken das Gehalt zu kürzen, lehnen sie aber strikt ab.
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„Manche in der Wirtschaft argumentieren: Die Mitarbeiter sind faul, und die Politik muss es richten. So kann es aber nicht sein. Unternehmen müssen aus eigener Kraft aus der Krise kommen“, fordert Köning. Dazu fehle aber die Bereitschaft. „Niemand will so richtig daran und die Gesundheitsprobleme im Unternehmen untersuchen lassen. Aber nur so lassen sich die Ursachen für Frustration, Enttäuschung, Wut und Lustlosigkeit der Beschäftigten finden“, meint der Spexa-Geschäftsführer. „Am Ende sind die Dinge lösbar – auch ohne die Hilfe der Politik.“
Aus den Daten Tausender Beschäftigter, die es bislang anonym in Interviews erhoben hat, stellte das Start-up eine Top 10 der Beschwerden auf, die am häufigsten die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen:
- Müdigkeit
- Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen
- Negativer Stress
- Erschöpfung
- Schlafprobleme
- Gereiztheit
- Enttäuschung
- Konzentrationsstörungen
- Überforderung
- Besorgtheit
Wer unter diesen Phänomen leidet, meldet sich nicht unbedingt gleich krank, meint Marc Sommer. Und genau hier liege das Problem. „Mitarbeitende kommen zur Arbeit, sind dazu gesundheitlich oder mental aber eigentlich gar nicht in der Lage“, sagt der Geschäftsführer. Durch diesen sogenannten „Präsentismus“ verliere das Unternehmen pro Beschäftigtem und Monat 1745 Euro Produktivität. Sommer: „Durch Absentismus, also bei einer Krankmeldung, sind es 371 Euro.“ Den Zahlen zufolge leidet ein Unternehmen also mehr unter Beschäftigten, die sich angeschlagen zur Arbeit schleppen.
Deshalb liege es auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen im Interesse der Unternehmen, die Ursachen für die verminderte Leistungsfähigkeit der Beschäftigten zu erkennen und zu beseitigen. „Wir haben gemessen, dass die Beeinträchtigungen der Mitarbeitenden aus der Arbeit herauskommen. Sie können zum Beispiel durch gute Führung, ergonomische Arbeitsplätze, eine gute Organisation und Leistungsförderung bekämpft werden“, erklärt der Mitgründer.
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Den Beschäftigten gute Ratschläge wie Jogging oder gesunde Ernährung zu geben, reichten da nicht aus. „Den Aha-Effekt bekommen sie, wenn sich etwa die Organisation im Betrieb sichtbar ändert“, sagt Sommer. Es sei mehr die Seele als der Körper, die unter Fehlentwicklungen im Betrieb zu leiden hätten. „Bei der mentalen Gesundheit haben wir sehr kritische Werte gemessen“, zeigt sich der Spexa-Chef besorgt. „Es kommen immer mehr Aufgaben obendrauf. Die Führungskräfte werfen immer mehr Bälle in die Luft. Es findet aber keine Klärung statt, was vom Alten bleibt. Das kann bis zum Burnout führen.“
Co-Geschäftsführer Köning erkennt in manchen Firmen aber auch eine gewisse Sprachlosigkeit und nennt ein Beispiel von der Verkehrsgesellschaft Ennepe-Ruhr. Dort hatte hatte es Änderungen bei der Reinigung der Busse gegeben. „In der Folge waren die Frontscheiben verschmiert. Das führte zu Stress bei den Busfahrern“, berichtet Köning. „Ein Organisations-Problem, das leicht zu lösen, aber erst bei der Mitarbeiter-Befragung bekannt geworden war.“
Spexa befragt 11.000 Beschäftigte der Stadt Essen
Mit der Stadt Essen und ihren 11.000 Beschäftigten leuchtet Spexa nun erstmals auch das Innere einer der größten Kommunen Deutschlands aus. „Aus den ersten Abteilungen haben sich 80 Prozent der Beschäftigten beteiligt. Das sind Spitzenwerte“, sagt der Mitgründer, der Essen als „Pionier“ bezeichnet. Bei der Analyse soll es aber nicht bleiben. In Workshops werde über die Probleme und mögliche Lösungsansätze gesprochen. Köning: „Nackte graue Wände oder schlecht beleuchtete Räume haben oft einen größeren Einfluss auf Beschäftigte als das Angebot des Arbeitgebers, ein Elektrofahrrad vergünstigt leasen zu können.“
Manchmal, meint Marc Sommer, gehe es einfach auch nur um die Unternehmenskultur. „Misstrauen ist ein großer Faktor im Betrieb“, sagt er. „Manche Unternehmen tun sich inzwischen mit dem Homeoffice schwer. Die Führungskräfte zweifeln, ob die Beschäftigten zuhause wirklich arbeiten oder einkaufen gehen.“
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