Witten. Nach einer Spritze gegen Ischias-Schmerzen kann Inge K. (84) kaum mehr laufen. Sie spricht von einem Behandlungsfehler – seitdem ist sie einsam.

  • Die Wittenerin Inge K. kann nach einer Spritze in den Rücken nur noch wenige Schritte laufen.
  • Alleine kann die 84-Jährige das Haus nicht mehr verlassen, ist auf die Hilfe von anderen angewiesen. Soziale Kontakte hat sie nur noch wenige.
  • Inge fühlt sich einsam und fragt: „Gehören alte Menschen eigentlich zur Gesellschaft noch dazu?“

Inge K. (84) aus Witten ist für eine Spritze gegen Ischias-Probleme in ein Krankenhaus in der Region gegangen. Heraus kam sie im Rollstuhl. Sie spricht von einem Behandlungsfehler. Das Ganze ist vier Jahre her. Seitdem kann sie ihr Haus nicht mehr alleine verlassen. Ein paar Schritte kann die gebürtige Düsseldorferin mit dem Rollator gehen. Ihr Umfeld hätte sich seitdem von ihr abgewendet. Die Seniorin fühlt sich alleine gelassen und fragt: „Sind alte Menschen in der Gesellschaft denn nichts mehr wert?“

Sie möchte nun auf ihr persönliches Schicksal aufmerksam machen und das Bewusstsein für Einsamkeit im Alter sowie den respektvollen Umgang mit älteren Menschen schärfen.

84-Jährige erzählt: „Sie haben mir quasi das Leben genommen“

Es war im August 2020, als die Wittenerin in die Bahn steigt. Sie fährt in ein Krankenhaus, um die empfohlene Spritze ihres Arztes gegen ihre Schmerzen zu bekommen. Mit den Problemen habe sie schon ihr ganzes Leben zu tun gehabt, sei aber irgendwie immer klargekommen. Bis zu dem einen Tag, der für sie alles veränderte.

„Von einem auf den anderen Moment war mein Leben ein anderes“, sagt Inge K. Kurz nach der Ischiasspritze in den Rücken habe sie ihre Beine nicht mehr gespürt. Sie beteuert, vorher nicht über die Risiken aufgeklärt worden zu sein. Erst danach habe sie etwas unterzeichnet, wüsste aber nicht genau, was dort geschrieben stand. „Ich hatte Panik, weil ich nicht mehr laufen konnte“, sagt sie. Das behandelnde Krankenhaus habe sie dann in ein anderes verlegt. Nach einigen Wochen kam sie nach Hause, „aber es war nichts wie vorher“.

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Die Ischias-Schmerzen seien zwar weg. Dafür habe sie umso schlimmere Schmerzen im unteren Rücken, die in die Beine ziehen. „Ich könnte vor Schmerzen das ganze Haus zusammenschreien.“ Vor allem nachts sei es besonders schlimm. Ihre Beine fühlen sich dann wie ein Schraubstock an, der immer enger gezogen wird. Sie laufe wie auf zwei Holzstöcken. Gehen kann sie nur noch ein paar Schritte mit Rollator. „Sobald ich mich nicht festhalte, knicken meine Beine weg.“ Meistens gehe alles nur im Sitzen oder Liegen.

Viele Schicksalsschläge im Leben: „Aber das war zu viel“

Inge K. musste in ihrem Leben viele Schicksalsschläge hinnehmen. Vor 20 Jahren hatte sie einen Schlaganfall. 2015 bekam sie dann Brustkrebs. „Durch eine Operation und Bestrahlung konnte mein Leben gerettet werden“, sagt sie. Ein Jahr später folgte dann ein Herzinfarkt. Außerdem musste die Seniorin vor zehn Jahren den Tod ihres geliebten Partners verkraften. Aber sie hat sich nie das Lachen nehmen lassen und immer versucht, so gut es geht am Leben teilzunehmen. „Ich habe mein Leben immer voll ausgefüllt und war fröhlich.“

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Ihren Job in einer Bücherei habe sie geliebt. 40 Jahre ist sie dieser Tätigkeit nachgegangen. „Da war ich immer bekannt wie ein bunter Hund.“ Sie sei viel gereist, dreimal im Jahr nach München, oft nach Amsterdam oder Venedig. Da sie sehr gläubig ist, habe sie häufig Gottesdienste besucht. Auch Treffen mit Freunden und Kochabende und viele Museumsbesuche standen auf dem Programm. Bis zu jenem schicksalshaften Tag im August 2020.

„Nachdem ich nicht mehr laufen konnte, haben sich fast alle von mir abgewendet“, sagt Inge mit Tränen in den Augen. Sie könne fast nicht mehr am Leben teilnehmen.

„Für die Gesellschaft bin ich nicht mehr existent.“
Inge K.

Die 84-Jährige konnte seitdem fast nie ihr Haus verlassen, nichts mehr unternehmen, nicht mehr reisen. „Mit meiner Physiotherapeutin schaffe ich es mal vor die Tür.“ Doch das sei immer ein anstrengender Weg, denn Inge K. wohnt im zweiten Stock. Zwei Freundinnen seien ihr noch geblieben. Eine wohnt in Italien, man telefoniere manchmal. Doch für ihr restliches Umfeld findet die Seniorin harte Worte: „Ich glaube, die warten alle nur darauf, dass ich endlich ins Heim gehe oder sterbe.“ Man habe ihr sogar gesagt, dass ihr Wohnung schon auf dem Markt angepriesen wird.

Aber die Wittenerin liebt ihre 70 Quadratmeter große Wohnung, in der sie seit über 30 Jahren lebt. In ein Heim wolle sie nicht. Ihr eigenes Zuhause gebe ihr ein wenig Lebensqualität. Ihren Balkon kann sie aber nicht mehr betreten. „Da ist eine kleine Stufe, die schaffe ich nicht“, sagt sie. Darüber ist sie sehr traurig. Denn sie habe immer gerne Blumen gepflanzt und dort gesessen. „Mit einer Reinigungskraft, einem Pflegedienst und der Physiotherapie schaffe ich es durch den Alltag.“ Aber vor der Spritze habe sie alles alleine gekonnt. Zu akzeptieren, dass das jetzt nicht mehr geht, sei sehr hart.

„Auch alte Menschen gehören noch dazu, oder?“

Die Rentnerin will keine Rache oder jemanden an den Pranger stellen. Aber sie fühle sich von dem damaligen Krankenhaus im Stich gelassen. „Für die war es nur eine Spritze, aber für mich war es mein Leben.“ Keiner fühle sich zuständig und sie fühle sich hilflos. Ein Neurologe habe ihr bestätigt, dass die Spritze zu tief in das Rückenmark gestochen worden sei. Außer einer gewissen Genugtuung bringe ihr das aber nicht viel. „Kein Urteil der Welt könnte mir meine Gehvermögen zurückgeben“, sagt die 84-Jährige. Trotzdem fragt sie sich, ob sie als ältere Frau nicht ernst genommen wird.

Inge K. möchte auf ihr Schicksal aufmerksam machen. „Dieser eine Tag hat mein Leben einfach für immer zerstört.“ Jetzt ist sie einsam. Familie hat sie keine. Mit Tränen in den Augen sagt sie: „Ich fühle mich einfach alleine gelassen, bin für viele nicht mehr existent.“ Sobald man nicht mehr so fit sei, werde man von der Gesellschaft einfach ausgegliedert. Das gelte vor allem für ältere Menschen.

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„Es gibt manchmal Wochen, wo ich kein Wort rede, außer mit der Pflegerin“, sagt sie. Vielen älteren Menschen gehe es ähnlich, glaubt Inge. Menschen, die aus verschiedenen Gründen einsam seien und gerne unter Menschen wären.

„Manchmal würde es schon reichen, wenn mich jemand einfach ehrlich fragt, wie es mir geht. Und mich damit als richtigen Menschen sieht“, sagt die Wittenerin. Ein bisschen menschliche Wärme brauche doch jeder. Inge K. wünscht sich, dass ältere Menschen respektvoller behandelt und nicht nur als alt und gebrechlich abgestempelt werden. „Auch wir sind doch ein Teil der Gesellschaft, oder?“

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