Witten. Generationswechsel bei den Grünen: Statt Lilo Dannert soll Katharina Saelzer den Sozialausschuss leiten. Was die Neue ändern will. Ein Interview.

Lieselotte Dannert ist wohl eines der bekanntesten Gesichter von Witten. Sie sitzt nicht nur seit 23 Jahren im Rat, sondern ist als Initiatorin des Help-Kiosks stark in der Flüchtlingshilfe engagiert. Auch in vielen anderen ehrenamtlichen Ämtern ist sie aus der Stadt nicht wegzudenken. Nun will sich die 72-Jährige langsam aus der Politik zurückziehen. Als Erstes will sie den Vorsitz im Sozialausschuss an ihre Nachfolgerin Katharina Saelzer (28) übergeben. Ein Gespräch mit den beiden grünen Ratsfrauen über den nötigen Generationenwechsel sowie alte und neue Herausforderungen.

Frau Dannert, wieso wollen Sie Ihr Amt mitten in der Legislaturperiode aufgeben?

Ganz einfach. Ich bin jetzt 72 Jahre alt, da machen andere gar nichts mehr. Außerdem brauchen wir einen Generationenwechsel. Wir haben in der Fraktion viele ältere, langjährige Mitglieder. Aber auch viele engagierte junge Leute. Die sollen auch eine Chance bekommen und nicht hinter den Alten zurückstecken. Wir haben früher immer über die ‘alten, weißen Männer’ in anderen Fraktionen geschimpft, die an ihren Ratssitzen klebten. Deshalb will ich meinen Platz räumen. Bei der nächsten Wahl werde ich auch nicht mehr kandidieren.

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Braucht es auch eine inhaltliche Verjüngung?

Dannert: Nicht wirklich. Was für Witten gut ist, ändert sich ja nicht. Aber es braucht auch neue Perspektiven.

Saelzer: Das fängt ja schon damit an, dass ich ganz anders aufgewachsen bin. Meine Generation ist sensibel für andere Themen, etwa LGBTQ, also die Rechte von queeren Menschen, die nicht heterosexuell sind oder sich nicht als Mann oder Frau definieren. Darüber sprach man früher nicht, heute kann man darüber diskutieren. Das gilt zum Beispiel auch für mentale Gesundheit beziehungsweise Krankheit. Gleichzeitig müssen wir natürlich an vielem weiterarbeiten, etwa an der Aufnahme und Integration von Geflüchteten.

Der Help-Kiosk ist mit Kleiderkammer und Möbellager an der Flüchtlingsunterkunft an der Brauckstraße präsent.
Der Help-Kiosk ist mit Kleiderkammer und Möbellager an der Flüchtlingsunterkunft an der Brauckstraße präsent. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald (theo)

Das war ja gerade sehr aktuell, als Frau Dannert 2014 den Vorsitz im Sozialausschuss übernommen hat. Und ist es auch heute wieder.

Dannert: Das war eine große Herausforderung. Aus dem Ausschuss heraus ist dann ja auch der Help-Kiosk entstanden. Wir waren hier im Umfeld mit die Ersten und dann schon gut aufgestellt, als es 2015 richtig losging. Als die Jahnhalle zur Flüchtlingsunterkunft wurde, haben 1000 Leute geholfen. Die Wittener Bevölkerung war da sehr offen. Als wir einmal zu Koffer-Spenden für Geflüchtete aufgerufen haben, sind wir fast in Koffern ertrunken. Es kamen so um die 700 zusammen.

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Und heute?

Dannert: Die Stimmung ist anders. Aber die Hilfsbereitschaft ist immer noch da. Zur Zeit sind es aber mehr Ukrainerinnen und Ukrainer, die ankommen, statt Menschen aus arabischen Ländern.

Saelzer: Gleichzeitig ist Alltagsrassismus leider auch hier weit verbreitet. Dabei fehlt oft einfach nur das Verständnis zwischen den Kulturen.

Deutschland will ja nun schneller und konsequenter abschieben...

Dannert: Wir haben hier in der Stadt viele Geduldete, die Jobs haben und Steuern zahlen. Sie arbeiten etwa in der Pflege, im Krankenhaus oder in verarbeitenden Betrieben. Die wenigsten liegen uns auf der Tasche. Bei Abschiebungen trifft es oft auch die Falschen. Ganz aktuell etwa ist ein Iraker zur Ausreise aufgefordert worden, der seit 2015 hier lebt und arbeitet. Aber er war einmal in eine Schlägerei verwickelt und wurde verurteilt. Jetzt soll er gehen. Vom Help-Kiosk aus haben wir ihm einen Anwalt vermittelt. Ich kenne wirklich so viele positive Fälle in Witten, Männer, die hier studiert und Familien gegründet haben.

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Frau Saelzer, Sie sind 2019 zu den Grünen gekommen, sitzen seit 2020 im Rat. Nun sollen Sie ab Januar einem Ausschuss vorstehen. Das ging schnell.

Saelzer: Als ich in die Partei eingetreten bin, habe ich auch nicht geahnt, dass ich schon ein Jahr später im Rat sitzen würde. Zuerst war ich auch unsicher, mich aufstellen zu lassen, weil ich mit Studium und Kind ohnehin schon einen straffen Zeitplan hatte und habe. Menschen in meinem Alter sind im Rat aber nicht gerade gut vertreten. Und meine Generation oder allgemein Menschen in der „Rushhour“ des Lebens sollten auch gehört werden. Aber sobald ich dann im Rat saß, hatte ich auch Bock auf Verantwortung, wollte nicht nur dort sitzen und ab und zu die Hand heben.

Rat entscheidet über Umbesetzung

Katharina Saelzer studiert an der Uni Witten/Herdecke den Master „Ethik und Organisation“ und schreibt derzeit ihre Abschlussarbeit. Außerdem hat sie sich 2022 als PR-Beraterin selbstständig gemacht.

Die Umbesetzung im Sozialausschuss muss noch vom Rat abgesegnet werden, der das nächste Mal am 6. November tagt. Die Grünen haben dazu einen entsprechenden Antrag gestellt. Saelzer ist bereits stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses.

Lilo Dannert ist neben ihrem politischen Engagement auch Vorsitzende im Folk-Club Witten. Diesen möchte sie nun bald gerne wiederbeleben. Ebenso ist sie Vorsitzende des Partnerschaftsvereins Witten, der sich um die Städtepartnerschaften kümmert. Derzeit organisiert Dannert das vierte Jugendcamp, das im kommenden Sommer in Mallnitz (Österreich) stattfinden soll. Dannert hat zwei Söhne und vier Enkelkinder, mit denen sie gerne im umgebauten Bulli campen geht.

Welche Schwerpunkte wollen Sie setzen?

Saelzer: Das Thema Gleichstellung muss man heute größer denken – und zwar Richtung Diversity. Es geht dabei nicht mehr nur um Mann und Frau, sondern dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat, egal welche Hautfarbe, Religion oder sexuelle Orientierung. Ich möchte, dass auch in der Verwaltung Gleichstellung anders gedacht wird als bisher. Ich würde auch Angebote für benachteiligte Familien gerne sichtbarer machen. Oft wissen die Familien, die Anspruch auf Unterstützung hätten, ja gar nichts davon. Das habe ich als Tochter einer lange Zeit alleinerziehenden Mutter auch selbst erlebt. Deswegen möchte ich den Zugang zu sozialer Unterstützung weniger bürokratisch und niedrigschwelliger gestalten.

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