Witten. Sie hat das Kindertrauerzentrum in Witten aufgebaut. Nun geht Annette Wagner – aber nicht in Rente. Ein Gespräch über Leben, Tod und Zwiebeln.
Sie ist Pädagogin, Diakonin und erfahrene Mama. 20 Jahre hat Annette Wagner außerdem trauernde Kinder begleitet und 2012 das Kindertrauerzentrum „traurig-mutig-stark“ an der Lutherstraße in Witten mitbegründet. Nun gibt die 62-Jährige die pädagogische Leitung ab. Im Interview spricht sie über Tod und Leben und was Blumenzwiebeln mit all dem zu tun haben.
Frau Wagner, warum beenden Sie Ihre Arbeit im Kindertrauerzentrum?
Annette Wagner: Alles hat seine Zeit. Das war schon der Titel meiner Examenspredigt und dieser Gedanke hatte oft Einfluss auf mein Leben und meine Entscheidungen. Ich durfte das Zentrum wachsen sehen. Es war mein Herzenskind. Ich habe dort intensiv Kinder begleitet, die etwa ein Geschwisterkind verloren haben, deren Großeltern gestorben sind oder bei denen ein Elternteil Selbstmord begangen hat. Deshalb schwingt natürlich schon Wehmut mit. Aber auch ein bisschen Stolz. Denn es ist längst zu einer ernstzunehmenden Einrichtung geworden und braucht jetzt mal neue Kräfte. Das ist wie bei meinen vier Söhnen. Ich habe sie großgezogen und musste sie irgendwann loslassen.
Aber Sie ziehen sich nicht in den Ruhestand zurück?
Nein, auf keinen Fall. Ich werde weiter Vorträge halten und Seminare zum Thema Trauerbegleitung geben, um bundesweit neue Trauerbegleiter und -begleiterinnen zu qualifizieren. Ich werde oft angefragt, bin auch in Schulen oder Hospizen unterwegs. Ich glaube, dass ich eine Begabung habe, Menschen für dieses Thema zu begeistern. Außerdem arbeite ich weiterhin als Krankenhausseelsorgerin für den Evangelischen Kirchenkreis in Niederwenigern.
Sie machen aber auch noch etwas ganz anderes...
Ich gebe seit 34 Jahren Kurse an der VHS. Es geht um „Wirbelsäulenschonende Gymnastik am Vormittag“. Das finde ich großartig.
Das klingt sportlich.
Ich fühle mich fit. Deshalb war ich mir auch sicher, dass ich problemlos wieder aufstehen kann, als mich Ihr Fotograf bat, fürs Bild auf dem Boden Platz zu nehmen.
Sie sind kürzlich bei einer Feier in der Kreuzkirche offiziell verabschiedet worden. Da haben Sie Blumenzwiebeln an alle verteilt. Was hatte es damit auf sich?
Das hat mit einer besonderen Situation zu tun, die ich erlebt habe, als die Trauergruppen für Kinder in den ersten Jahren noch in Hattingen stattfanden. Es ging um das Thema, wie man eine neue Beziehung zur verstorbenen Person aufbauen kann. Ich hatte viele Blumenzwiebeln mitgebracht, die die Kinder eingepflanzt haben. Man kann ja nicht sehen, was daraus wird. Ein Junge, dessen Mutter gestorben war, zeigte den Topf mit den eingepflanzten Zwiebeln seinem Vater mit den Worten: „Papa, guck mal. Hier ist das alte Leben von Mama drin. Und da kommt jetzt wieder neues Leben raus.“ Das hat mich schwer beeindruckt. Es war das achte von zehn Treffen. Seitdem standen alle achten Treffen unter dem Motto „Das alte und das neue Leben“.
Welchen Einfluss hatte Corona auf die Trauerarbeit im Zentrum?
Es war auch für uns eine Ausnahmesituation, aber wir haben sie gut überlebt. Wir haben den Kindern Päckchen oder Briefe geschickt und uns dann digital oder draußen getroffen.
Wie belastend ist es eigentlich, ständig Trauerarbeit zu leisten?
Alle denken immer, hier wird kollektiv geheult. Aber ich bin eine fröhliche Frau. Das Leben ist eine tolle Sache, aber es gibt Situationen, da muss man den Zugang dazu erst wieder finden. Wir sind dann so eine Art Tankstelle und helfen den jungen Menschen, ihre verschütteten Ressourcen zu entdecken.
Wie machen Sie das?
Das ist sehr individuell. Manchen hilft es, draußen in der Natur zu sein, andere machen oder hören Musik oder lesen. Kinder sind da immer sehr kreativ. Zum Beispiel, wenn sie sich gegenseitig Rezepte gegen das Traurigsein schreiben. Da steht dann so was drauf wie Disneyfilme gucken oder Schokolade essen. Das sind alles Möglichkeiten, die ihnen Augenblicke schenken, um aus dem Jammertal herauszukommen. Sie dürfen auch wütend sein. Wir haben extra einen Toberaum, in dem sie alles rauslassen können.
Was ist das Wichtigste im Umgang mit trauernden Kindern?
Ich nehme sehr ernst, was die Kinder mir sagen. Die wollen keine schlauen Antworten. Die wollen, dass ihnen jemand zuhört und sich gemeinsam mit ihnen auf einen Lösungsweg begibt. Sie nehmen mich mit in ihre Welt, in ihre Vorstellungen vom Tod, von Himmel und Hölle. Das ist, als ob sie mir ihr Herz aufschließen.
Wie sind Sie als Kind mit dem Tod umgegangen?
Ich bin das zehnte von zwölf Kindern. Ich war secheinhalb, als mein Papa nach einem Urlaub am Meer an einem Herzinfarkt starb. Unser soziales Netz war großartig. Die Solidarität unter uns Geschwistern hat sehr geholfen, man konnte alles fragen. Von manchen Erwachsenen dagegen wurden wir nicht ernst genommen. Da habe ich mir vorgenommen: Wenn du groß bist, hörst du genau hin. Das hat offenbar seitdem in mir geschlummert wie eine Zwiebel. Deshalb bin ich auch ein Fan von Trauergruppen. Denn wer hat heute noch so viele Geschwister.
Wie reagieren Sie als Erwachsene auf Verluste?
Ich bin genauso traurig wie andere auch. Aber ich weiß, dass Trauer nicht das Problem ist, sondern die Lösung. Was erst wie eine Last scheint, wird ein Teil der Lebenserfahrung. Was immer bleibt, ist eine Resttrauer.
Wann wussten Sie, dass Sie Trauerbegleiterin werden wollen?
Ich habe meine Ausbildung zur Diakonin im Martineum an der Pferdebachstraße gemacht. Weil ich als Pädagogin schon Sport unterrichtet hatte, habe ich im Rahmen der Ausbildung die erste Kinderherzsportgruppe im Ruhrgebiet gegründet. Annedore Methfessel hatte zu dieser Zeit gerade den Hattinger Verein für Trauerarbeit gegründet und mich gefragt, ob ich mitmachen will. Ich habe dann meinen Mann gefragt, ob wir noch ein „Kind“ wollen und er hat zugestimmt. Er hat mich immer unterstützt. Aber nicht nur er.
Wer noch?
Ich will nicht die fromme Tussi sein. Aber „Der Herr der Zeit geht alle Tage mit“. Das ist die letzte Zeile eines Gedichts von Klaus-Peter Hertzsch, das mir mein ehrenamtliches Team zum Abschied geschenkt hat. Gottes Segen scheint auf meinen Entscheidungen zu liegen. Aber ich habe nie missioniert. Sie sehen hier kein Kreuz in den Räumen des Zentrums. Wir arbeiten überkonfessionell. Ich hatte dabei immer die volle Rückendeckung des Vorstands.
Welchen Stellenwert haben Tod und Trauer in der heutigen Gesellschaft?
Mir war es immer ein Anliegen, darüber zu sprechen. Für mich gehören Tod und Trauer zum Leben dazu. Aber viele haben eine Scheu davor. Mein Mann bittet mich vor Partys schon mal, das Thema lieber außen vor zu lassen. Vielleicht liegt es an dem Rest Kind in den Erwachsenen, das an die magische Fähigkeit glaubt: Wenn ich nicht über den Tod spreche, passiert auch nichts.
Das Zentrum für Kinder- und Jugendtrauerarbeit „traurig-mutig-stark“ gehört zum Hattinger Verein für Trauerarbeit und befindet sich seit Oktober 2012 auf dem Gelände der Kreuzkirche an der Lutherstraße 6. Wer sich für einen Kurs interessiert, kann sich melden unter 02302 98 26 226.