witten. . Trauerbegleiterin Annette Wagner hat schon viele Menschen nach dem Tod eines Angehörigen begleitet. Mit Kindern besucht sie auch Friedhöfe.
Annette Wagner ist sechs Jahre alt, als sie im Esszimmer vor dem offenen Sarg ihres Vaters steht. Er trägt ein Kleid mit Rüschen, sieht ansonsten aber ganz normal aus. Vielleicht schläft er ja nur. „Ich habe in seine Haut gekniffen und gemerkt, dass sie sich anders anfühlt als sonst“, erinnert sich Wagner.
Heute ist die Wittenerin 58 Jahre alt. Sie sitzt auf einem niedrigen Hocker. Hinter ihr liegt ein Paar Boxhandschuhe. In einer Ecke türmen sich Kissen und Decken zu einer kuscheligen Höhle. Annette Wagner ist Trauerbegleiterin. In diesem Raum in der Lutherstraße 6 trifft sie auf Kinder und Jugendliche, die einen Angehörigen verloren haben. Das Wittener Zentrum für Kinder- und Jugendtrauerarbeit gehört zu „traurig-mutig-stark“, dem Hattinger Verein für Trauerarbeit.
Eltern sollten gegenüber ihren Kindern ehrlich sein
„Heute sollen die Leute fit sein und ihr Leben genießen. Krankheit und Tod passen da nicht mehr ins Bild“, sagt Annette Wagner. Sie hat in den letzten 50 Jahren beobachtet, wie Tod und Trauer immer weiter aus der Gesellschaft verdrängt werden. „Besonders Erwachsene haben eine Riesenscheu“, sagt die Trauerbegleiterin.
Wagner hat erlebt, wie schwer es Erwachsenen oft fällt, mit Kindern über den Tod zu sprechen. Sie findet, Eltern sollten ehrlich erzählen, was los ist. „Ansonsten fängt bei Kindern das Kopfkino an und Ängste entstehen.“
In den Trauergruppen reden die Kinder und Jugendlichen nicht nur über den Tod. Sie besuchen auch Friedhöfe und treffen sich mit Bestattern. Werden die Toten noch einmal rasiert? Und wie fühlt es sich an, in einem Sarg zu liegen? Die Kinder stellen viele Fragen. Und das ist auch gut so. „Das Wissen macht sie stark“, sagt Wagner.
Kinder begreifen erst später, dass der Tote nicht mehr wiederkommt
Der Trauerprozess läuft bei Kindern anders ab als bei Erwachsenen. Bei Kindern bis sechs Jahren greift nach einem Todesfall oft das magische Denken. „Kinder schließen Deals“, erklärt Wagner. „Sie glauben, wenn sie brav sind oder dieses und jenes tun, werden der Opa oder die Mama wieder lebendig.“ Wenn sich der Deal nicht erfüllt und die Kinder nach einiger Zeit begreifen, dass der Tote wirklich nicht mehr wiederkommt, beginnt der eigentliche Verarbeitungsprozess.
Es kann passieren, dass die Kinder nach Monaten anfangen, einzunässen, schlechter in der Schule werden oder Wutausbrüche bekommen. Bei den meisten Kindern in der Trauergruppe ist der Todesfall ein halbes Jahr oder länger her. Erwachsene dagegen suchen sich schon sechs bis acht Wochen nach dem Verlust eine Trauerbegleitung.
Trauernde auf jeden Fall ansprechen
Neben der professionellen Begleitung spielt das Umfeld der Trauernden eine wichtige Rolle. Doch egal, ob der Trauernde ein Arbeitskollegen, Freund oder loser Bekannter ist: Oft sind Menschen unsicher, wie sie den Hinterbliebenen begegnen sollen. Soll man sie auf den Todesfall ansprechen oder das Gespräch doch lieber auf ein anderes Thema lenken?
„Auf jeden Fall ansprechen“, sagt Annette Wagner. Dabei sollte man allerdings vorsichtig mit zurechtgelegten Floskeln sein. Ansonsten kann es leicht passieren, dass einem statt dem herzlichen Beileid ein herzlicher Glückwunsch herausrutscht. Dagegen hilft: Dem Trauernden in die Augen schauen und die eigenen Gefühle ausdrücken. Das gibt dem Gegenüber die Chance, ebenfalls die eigenen Gefühle zu benennen.
Tränen sind die gesündeste Reaktion auf einen Verlust
Viele drücken sich im Gespräch davor, den Toten beim Namen zu nennen. „Doch für die Trauernden ist es ein wichtiges Zeichen“, sagt Annette Wagner. „Es zeigt ihnen: Der Tote wurde gekannt.“ Sollten während der Unterhaltung Tränen fließen, ist das kein Grund zur Panik. „Tränen sind die gesündeste und normalste Reaktion auf einen Verlust“, so die Seelsorgerin. Viele Menschen glauben, sie machen die Trauernden noch trauriger, wenn sie sie auf den Todesfall ansprechen. Doch das Gegenteil sei der Fall. Trauernde freuen sich, wenn Menschen Anteil nehmen, selbst wenn dabei Tränen fließen.
Bei der Begegnung mit den Hinterbliebenen kann es außerdem helfen, von den eigenen Erinnerungen an den Toten zu erzählen. „Schöne Erinnerungen setzen Hormone frei, die Trauernden helfen, sich zu stabilisieren“, sagt Annette Wagner. Manche Menschen haben Angst, die Erinnerungen könnten zu schmerzhaft sein. Doch das ist selten der Fall. „Trauernde sind keine unmündigen Wesen. Wenn es ihnen zu viel wird, können sie das sagen.“