Oberhausen. Die Zahl psychischer Erkrankungen steigt rasant, aber es gibt nicht genügend Behandlungsplätze – auch in Oberhausen werden die Wartelisten immer länger
„Man bekommt einfach eine Liste mit Therapeuten in die Hand gedrückt , die soll man dann abtelefonieren – und bei den meisten geht immer nur ein Band dran. Man hat oft keine Chance, da reinzukommen“, erzählt Markus, der sich wegen Depressionen behandeln lassen wollte. Egal, ob Depressionen, Burnout oder Angststörungen – Betroffene müssen meist monatelang auf eine Psychotherapie warten.
„Das ist ein Riesenproblem – gerade in Oberhausen und den angrenzenden Städten“, sagt Peter Jötten vom Oberhausener Netzwerk Selbsthilfe. „In einer Akut-Situation kurzfristig einen Termin zu bekommen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Die Betroffenen müssen oft ausweichen bis weit hinter Dinslaken.“
Schnelle, spontane Hilfe gibt es meist nicht – und das kann fatale Folgen haben: „Der Kreisel dreht sich immer schneller. Und ich kann mir vorstellen, dass manche Leute sagen: Drei Monate warten, das schaffe ich nicht – und wählen dann den schlechtesten aller Auswege“, erzählt Markus.
Fehler im System
Tatsächlich liegen die Wartezeiten bis zum Erstgespräch in Oberhausen laut Bundespsychotherapeutenkammer im Durchschnitt bei 17 Wochen. „Man rechnet mit drei bis sechs Monaten“, berichtet Michael May, der in Oberhausen eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie leitet. „Und bei Kindern und Jugendlichen dauert es sogar bis zu einem Jahr.“
Das Problem: zu wenige Therapeuten für zu viele Kranke. Denn pro 100 000 Einwohner gibt es in Oberhausen nur 14,9 Therapeuten, in anderen Ruhrgebietsstädten ist es ähnlich. Zum Vergleich: In Düsseldorf sind es 42,6 und in Bonn sogar 75,3.
Dass die Unterversorgung hier im Ruhrgebiet so ausgeprägt ist, ist aber keine Frage der mangelnden Attraktivität des Standorts – es ist ein Problem des Systems. Denn die Anzahl der Kassensitze für Psychotherapeuten ist begrenzt: Die Kassenärztlichen Vereinigungen legen in ihrer Bedarfsplanung fest, wo wie viele Therapeuten gebraucht werden – nur, dass der Bedarf hier viel zu niedrig eingestuft wurde und die Zahlen zudem längst überholt sind. Sind die Quoten erfüllt, darf sich kein Therapeut mehr niederlassen.
"Eine Stunde, ein Patient."
„Als ich meine Praxis im Jahr 2000 aufgemacht habe, war ich innerhalb von einer Woche voll“, erzählt Michael May. Ein Teufelskreis: Die Praxen sind ausgelastet, die Zahl psychisch erkrankter Menschen steigt aber kontinuierlich an – und mehr Therapeuten dürfen sich nicht niederlassen.
Zusätzlich müsse man beachten: Psychotherapeuten haben keine Laufkundschaft. „Ein Hausarzt, der hat vielleicht 2000 Patienten pro Quartal – ein Psychotherapeut schafft aber nur 20 bis 40. Weil hier gilt: eine Stunde, ein Patient.“ Ein Hausarzt könne seine Patienten notfalls auch mal ein bisschen schneller durchschleusen – das geht hier nicht. „Von einem Hirnchirurgen kann man ja auch nicht erwarten, 17 Operationen am Stück zu machen“, erklärt May.
Und das ist nicht nur ein zeitliches Problem – die Therapie kann für den Therapeuten selbst auch extrem belastend sein: „Wenn man acht Stunden am Stück mit Misshandlung, Trauma und Vergewaltigung zu tun hat, ist das schon sehr anstrengend“, so May.
„Wie ein Sechser im Lotto“
Das Ganze ist natürlich auch eine Sache des Geldes: „Wenn alle Menschen, die eine Psychotherapie bräuchten, wirklich eine bekämen – dann würden die Kosten im Gesundheitssystem explodieren“, sagt May. Zwar wolle jeder die beste verfügbare Therapie – bezahlen wolle sie aber niemand. So glaubt May, zumindest in der Kinder- und Jugendpsychotherapie sollte man auch verstärkt Präventionsarbeit leisten: „Auch dadurch könnte man das Platzproblem in der Psychotherapie angehen.“
Markus hatte Glück, er hat vergleichsweise schnell einen Therapieplatz gefunden: „Das war wie ein Sechser im Lotto“, glaubt er. Jetzt will er eine Selbsthilfegruppe gründen, um anderen Betroffenen seine Hilfe anzubieten. „Ich weiß ja, wie schlimm es ist, mit niemandem reden zu können.“