Oberhausen. 801 Gitarren-Gigs brachte Jürgen Reinke seit 2004 auf die Bühne – nicht nur im Gdanska. Sein Nachfolger profilierte sich mit Wohnzimmerkonzerten.
Kaum zu glauben, aber die Geschichte von „Gitarrissimo“ beginnt tatsächlich an einem Weihnachtsabend. Bekam doch ihr späterer Macher Jürgen Reinke 1963, da war er zarte 13, ein Transistorradio geschenkt und verliebte sich rasch in die beim britischen Soldatensender BFBS und auch beim damals tonangebenden Radio Luxemburg gespielte Beatmusik. Eine typische Sozialisation in den Sixties, wozu auch eine Wanderklampfe zum 14. Geburtstag zählte, die der frischgebackene Lehrling der Stadtverwaltung Oberhausen sich mehr schlecht als recht selbst drauf schaffte.
„Ich war dann bis etwa 1973 in der Verwaltung, aber das war nicht mein Traum“, erinnert sich Jürgen Reinke, der schon längst in der Musikszene tätig war: „Im Haus der Jugend am John-Lennon-Platz habe ich angefangen, mit Bands zu arbeiten und denen Auftritte zu vermitteln.“ Irgendwann habe er zehn Bands gemanagt, darunter die damalige Star-Combo „Tobogan“, und mit denen das Jugendzentrum gefüllt.
Dem Liegenschaftsamt, wo er inzwischen tätig war, gefiel Reinkes Nebentätigkeit, die zunehmend erfolgreicher geriet, überhaupt nicht: „Ich hatte etwa Tobogan im Vorprogramm von Shocking Blue platziert, die mit „Venus“ damals in den USA einen Nummer-1-Hit hatten. Und die Downtown Angels mit Achim Reichel zusammengebracht. Das war mein erster Kontakt mit der größeren Szene.“
Der Traum vom Oldie-Schallplattenladen
Nach einer Fortbildung zum EDV-Organisator gelingt Jürgen Reinke 1976 das heute kaum mehr vorstellbare Kunststück, als Journalist bei der Mülheimer NRZ mit den Spezialgebieten Denkmalpflege und Naturschutz unterzukommen. Der Musik bleibt er auch in jenen Zeiten treu und knüpft Kontakte zu zahlreichen Bands wie Novalis, Hölderlin, Grobschnitt oder Jane. „Von der Stadt habe ich ein Angebot bekommen, ein Buch zu machen: Wer, wo, was läuft in Oberhausen. Das war so ein Vereinslexikon. Da habe ich 19.000 Taler für gekriegt und mit dem Geld meinen Oldie-Schallplattenladen aufgemacht und mir einen Traum erfüllt.“
Auch „Hot ‘n’ Nasty“ sind zunächst kaltgestellt
Die laufende Zählung der „Gitarrissimo“-Konzerte muss Macher Jürgen Reinke im ersten Quartal 2022 gründlich überarbeiten: Denn auf obsaitensprung.de sind von Nr. 802 bis Nr. 823 gleich 23 Konzerte des neuen Jahres obsolet – es sei denn, man wollte und könnte doch noch einen früheren Start hinlegen.Auf der Homepage des Vereins steht das ominöse Wort „abgesagt“ bisher hinter den Konzerten vom 4. bis 28. Januar: von Martin Engeliens „Go Music“ bis zum angesagten Bluesrock-Quartett „Hot ‘n’ Nasty“. Natürlich ist’s der Verlauf der Pandemie, der über die Länge dieser Kunst-Pause entscheiden wird.
Den betrieb er 15 Jahre lang („musikalisch lief da nicht so viel“) bis zur Mitte der 1990er, um danach ein Schloss in Tschechien wiederaufzubauen und archäologische Ausgrabungen in Nordzypern zu begleiten. 2001 ist er dann an der Gründung der Künstlergalerie KiR beteiligt – wo bald auch Gitarristen auftraten. „Michael Pauly hatte mich 2003 gefragt, ob ich sein Management übernehmen wollte, und da habe ich dann mit den alten Freunden vom K 14 gesprochen, ob er da mal auftreten könne.“
Das Konzert am 9. Februar 2004 wurde für „Gitarrissimo“ zum offiziellen Gründungsdatum. „Das haben wir dann zwei Jahre lang im K 14 jeden ersten Montag im Monat durchgezogen und sind dann im Januar 2006 ins Gdanska gewechselt.“ Czeslaw Golebiewski hatte als Wirt am Altmarkt gerade den benachbarten Drogeriemarkt übernommen – den heutigen Konzertsaal.
Anfangs war’s die klassische Gitarrenkunst
Dass Jürgen Reinke 2008 mit der klassischen Gitarristin Heike Matthiesen die Strukturen professionalisierte und einen Verein gründete, hatte vor allem kassentechnische Gründe: „Wir haben damals das erste Gitarrenfestival geplant. Das nannte sich noch Niederrheinisches Gitarrenfestival mit acht Konzerten in sechs Städten. Dafür brauchten wir den Verein.“
Zwar lag zunächst der Fokus bei „Gitarrissimo“ überwiegend auf klassischer Gitarrenkunst, doch öffnete sich die beliebte Reihe rasch auch anderen Stilistiken wie Blues und vor allem Fingerstyle. Und wurde damit glatt zum Exportschlager, weshalb man einige Jahre im Wochentakt mit dem Oberhausener Gdanska und dem Duisburger Steinbruch gleich zwei Locations bespielte. „Von den heute 800 Konzerten haben aber rund 650 im Gdanska stattgefunden“, betont Jürgen Reinke, der 2011 für sein musikalisches Engagement von der Aktion „Menschen machen’s möglich“ zum „Ehrenamtler des Jahres“ gewählt wurde. „Mit größeren Sachen waren wir auch schon mal im Ebertbad, im Zentrum Altenberg oder im Theater Oberhausen.“
Dass sein „Internationales Gitarrenfestival Oberhausen“, über viele Jahre im Bertha-von-Suttner-Gymnasium eine beständige Attraktion für den klassischen Nachwuchs, mittlerweile ohne dieses Genre auskommen muss, hat einen simplen Grund: „Tristan Angenendt, unser künstlerischer Leiter, hat eine Professur in Rostock angenommen, weshalb ihm die Zeit fehlt, sich um Gitarrissimo weiter zu kümmern“, erklärt Jürgen Reinke: „Deshalb lasse ich die Klassik erst einmal ruhen, denn wenn ich das mache, dann vernünftig oder eben gar nicht.“ Das sei einer seiner Grundsätze, betont er: „Ich mache bei Gitarrissimo nur Sachen, die Qualität haben. Oder ich lasse die Finger davon.“
Das Staraufgebot von „Go Music“
Sein Gespür für Qualität zeigte sich auch an seinem 62. Geburtstag im Gdanska, als ihm Martin Engelien erstmals begegnete: „Ich habe für Kuro ja auch die Kasse gemacht und Einladungen verschickt. Und an meinem Geburtstag tauchte so ein Typ auf, den ich überhaupt nicht kannte, und der eigentlich zu Kuro wollte.“ Das Gespräch kreiste bald um Rockmusik und das Geburtstagskind erklärte dem Unbekannten: „Damit bist Du bei Kuro falsch aufgehoben.“ Unverdrossen skizzierte Wunderbassist Martin Engelien kurz und bündig das Konzept von „Go Music“ – und Jürgen Reinke erkannte seine Großchance: „Das will ich für Gitarrissimo haben. Zu Beginn der Wintersaison 2012 starten wir durch.“
Seither gehört das Staraufgebot von „Go Music“ zu den tragenden Säulen der beliebten Konzertreihe, die Jürgen Reinke noch bis zur 1001. Ausgabe selbst betreuen will. Im Gegensatz zu vielen Unternehmern, die sich um ihre Nachfolge meist viel zu spät kümmern, hat er die Zukunft längst im Blick. Der 71-Jährige lernt mit Dirk Petri („der Ehemann meiner Nichte“) einen Musikenthusiasten an, der nach und nach „Gitarrissimo“ neue Impulse geben wird. „Dirk kennt sich in der Metal- und Mittelalter-Rock-Szene aus und hat Bands wie Letzte Instanz zu Wohnzimmerkonzerten eingeladen. Irgendwann hat er zu mir gesagt: Ich hätte an Gitarrissimo auch Spaß.“
Der Macher „wäre sonst schon 70 Konzerte weiter“
Corona machte beiden einen Strich durch die Rechnung – „Ich wäre ja sonst schon 70 Konzerte weiter.“ Aber ab April 2022 soll es wieder losgehen mit „Gitarrissimo“ und einer eigenen Konzertreihe von Dirk Petri. Im kommenden Jahr gebe es ja so einiges zu feiern, sagt Jürgen Reinke: „Den 18. Geburtstag im Februar, 16 Jahre im Gdanska, das 15. Gitarrenfestival im Herbst und außerdem zehn Jahre ,Go Music‘.“ Er hoffe auf ganz viele spannende Momente, so der rührige Konzertmacher: So gebe es eine neue Platte von Tobogan mit Premiere im Gdanska und obendrein die Wiederauferstehung von Reifrock zu erleben. Bei Gitarrissimo sollen sich die Generationen und Genres begegnen.