Mülheim.
Die ersten 154 Unterschriften stehen im eigens hierfür gebundenen Buch: Oberbürgermeisterin, Sozialdezernent und geladene Gäste unterzeichneten am Montag die „Mülheimer Erklärung zur Würde und Lebensqualität Pflegebedürftiger und der sie Pflegenden“.
Der Festakt zog Menschen aller Altersgruppen in die Aula der Realschule Stadtmitte, darunter: Heimbewohner, pflegende Angehörige, Ärzte, Vertreter von Politik, Verwaltung und Verbänden. Das schwere Buch kann tausende Signaturen aufnehmen, aber: „Es geht nicht darum, viele Unterschriften zu sammeln“, sagt Jörg Marx, Sozialplaner der Stadt, „sondern die Erklärung ganz bewusst anzunehmen.“
Die Mülheimer Erklärung stellt die Wahrung der Menschenwürde in den Mittelpunkt. Sie beschreibt, was dies in Pflegesituationen konkret bedeuten kann: angst- und stressfreie Betreuung etwa, Entlastung der Angehörigen, angemessene Arbeitsbedingungen für die Profis. „Begrenzte materielle und personelle Ressourcen“, heißt es, „können kein limitierender Faktor sein.“
Programm und Ergebnis der "Dialog-Offensive Pflege"
Die Erklärung ist zugleich Programm und Ergebnis der „Dialog-Offensive Pflege“, einer breit angelegten Arbeitsgruppe, mit der die Stadt Maßstäbe setzen möchte. Gegründet hat sie sich im Dezember 2010, nach einer ehrenamtlich durchgeführten Befragung von Profis und Betroffenen, die klar machte, dass etwas geschehen muss.
Derzeit sind in der „Dialog-Offensive Pflege“ etwa 25 Mitwirkende engagiert. Dazu zählen Mitglieder der Pflegekonferenz, zu der u.a. Verwaltungsfachleute, aber auch Kassenvertreter gehören, ebenso wie Profis aus dem stationären wie ambulanten Bereich und Bürger(innen) mit persönlichem Bezug. Die Fäden laufen zusammen beim Sozialamt, bei Jörg Marx, aber alle legen augenscheinlich Wert darauf, die Initiative als „Bürgerbewegung“ zu verstehen. Bislang kann die „Dialog-Offensive Pflege“ auf keinerlei finanzielle Mittel zurückgreifen, aber auch daran wird gearbeitet, und die Stadt bringt sich in der Projektleitung personell ein.
Schaffung von Hilfsangeboten
Es gibt viel zu tun, um Pflege zu verbessern, das wurde auch beim Festakt klar. Zwei Themen könnte man beispielhaft nennen: Entbürokratisierung, in dem die tatsächliche Qualität der Betreuung geprüft wird, nicht die der schriftlichen Dokumentation. Und auch: die Schaffung von Hilfsangeboten für jüngere Betroffene: „Pflege bedeutet nicht, 95 Jahre alt zu sein“, betont Oskar Dierbach, Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe und Mitgründer der „Dialog-Offensive“. Er versichert zugleich: „Es wird sich am Ende auch volkswirtschaftlich rechnen, weil wir dann einen geringeren Reparaturbetrieb haben.“
Interview mit Martin Behmenburg, Mitbegründer der „Dialog-Offensive Pflege“
Martin Behmenburg, Krankenpfleger und seit 1992 Chef eines privaten Pflegedienstes, hat die „Dialog-Offensive Pflege“ in Mülheim maßgeblich angestoßen. Gemeinsam mit Oskar Dierbach führte er 2010 eine umfassende Befragung durch, an der rund 600 Fachkräfte, Pflegebedürftige und Angehörige teilnahmen. Es gab beunruhigende Ergebnisse: Zwei Drittel der Pflegekräfte sahen sich durch ihren Arbeitsalltag gesundheitlich gefährdet. 90 Prozent der Angehörigen bescheinigten den Profis großes Engagement, aber auch chronische Überforderung.
Was hat sich getan, seit Ihrer Umfrage vor drei Jahren?
Martin Behmenburg: Wir haben in Mülheim noch keine neue Bestandsaufnahme gemacht, aber auf Grundlage der Ergebnisse angefangen zu arbeiten. Die „Dialog-Offensive Pflege“ hat sich gebildet, moderiert vom Sozialamt der Stadt. Wir haben mehrere Unter-Arbeitsgruppen gebildet.
Welcher gehören Sie an?
Behmenburg: Zweien: Eine entwickelt Alternativen zum bisherigen Prüfverfahren durch den MDK, eine andere befasst sich mit der Verbesserung der personellen Situation und Arbeitsbedingungen in der Pflege. Wir treffen uns mehrmals pro Quartal, da wird richtig gearbeitet. Es gibt noch ein anderes wichtiges Ergebnis...
Und das wäre?
Behmenburg: Wir haben es geschafft, die ambulanten Dienste in Mülheim recht gut zusammen zu schweißen, die vorher überhaupt keinen Kontakt miteinander hatten. Mittlerweile gibt es eine Gruppe, die sich regelmäßig im Plenum trifft. Plötzlich können alle miteinander reden, und vor allem: Auch die Kostenträger und Kassen reden mit uns.
Hat sich für Pflegebedürftige und Angehörige hier in der Stadt schon konkret etwas verbessert?
Behmenburg: Bisher hat sich vor allem auf der Ebene der Leistungsträger einiges bewegt. Aber wenn wir beispielsweise die Prüfmethoden der Pflegequalität in Mülheim verändern, dann wird sich auch für die Patienten bald einiges verbessern.