Essen. Zum Tag des Schlaganfalls macht Redakteurin Claudia Pospieszny den Selbstversuch und zieht in ein Seniorenheim. Das Experiment soll zeigen, was den Menschen erwartet, nachdem ihn der Schlag traf. Wie schlimm ist es wirklich, die Selbstständigkeit zu verlieren?
Wäre ich ein Schlaganfallpatient, mein Leben würde sich verdichten im Zimmer eines Seniorenheims auf vielleicht 20 Quadratmetern. Ein Tisch, zwei Stühle, das Bett höhenverstellbar, eine Tür zum separaten Dusch-WC. Doch wie fühlt es sich an, als Schlaganfallpatient die Selbstständigkeit abzugeben? Was macht es mit mir, wenn ich ohne Hilfe völlig aufgeworfen bin? Wo beginnt meine Schamgrenze – und an welcher Stelle verlasse ich diesen Selbstversuch?
Für einen Tag beziehe ich ein Zimmer im Malteserstift St. Bonifatius an der Selmastraße, das eine Schwerpunktstation für Schlaganfallpatienten eingerichtet hat. Um 6 Uhr morgens checke ich ein, lege mich ins Bett und während ich aufs Wecken warte, versuche ich mich einzufinden in meine neue Rolle: Nach einem Schlaganfall bin ich rechtsseitig gelähmt, bin immobil und inkontinent, kann aber immerhin noch sprechen.
Die Zeit wird lang
Bereits nach einer halben Stunde wird mir die Zeit lang, nach einer Dreiviertelstunde frag ich mich: Was kann Grund genug sein, die Pfleger, die um diese Zeit rotieren, mit der Klingel an mein Bett zu zitieren? So döse ich ein, bis um 7.30 Uhr Altenpflegehelferin Kerstin Haag an mein Bett tritt. Eine bizarre Situation. Wir sind uns fremd, doch auf übliche Kennenlernformeln wie ein Aufstehen, eine ausgestreckte rechte Hand zur Begrüßung muss ich verzichten. Schlimmer noch – ich weiß, gleich wird sie mich ausziehen, um mich zu waschen.
Schlaganfall
Wie ich nun aus diesem Bett komme? Technik. „Sie halten mit der gesunden Hand die gelähmte vor der Brust fest“, sagt Kerstin Haag. Dann dreht sie mich auf die Seite, zieht mir zur Vorbereitung aufs Waschen Hose und Slip herunter, hebt dann erst meine Beine über die Bettkante. Mit runtergelassener Hose zieht sie mich hoch, bis ich schließlich auf dem gesunden Bein stehe und anschließend in den Toiletten- und Waschstuhl sinke. Auch für sie ist es eine ungewohnte Situation, denn eigentlich bin ich kerngesund.
Duschen einmal wöchentlich
Schließlich schiebt sie mich vors Waschbecken. „Duschen können die Patienten einmal die Woche.“ Ansonsten - so sieht es das Pflegegesetz vor - gibt es eine tägliche Grundreinigung. Mit ungeahntem Ehrgeiz wasche ich mit der gesunden Hand so weit ich komme – und muss dann doch zulassen, dass Kerstin Haag für mich unerreichbare Körperpartien wäscht. Dass sie mit der Situation sachlich distanziert umgeht, nimmt der Situation ein wenig die Peinlichkeit. Doch ich spüre : Wir steuern gefährlich rasch auf meine Schamgrenze zu.
Erreicht ist diese beim Toilettengang. „Der Eimer ist direkt unter dem Stuhl“, sagt Kerstin Haag. Immerhin verlässt sie das Zimmer, bis ich fertig bin und sie wieder hereinrufe. Dann hilft sie mir, mich auf das gesunde Bein zu stellen, während im Stehen von hinten das Waschen der unteren Körperpartie beginnt. Leicht panisch überlege ich, zu gehen. Aber das könnte ich als Betroffene nicht, kneifen will ich auch nicht und so bleibt mir nur, die Situation über mich ergehen zu lassen.
Wie wäre es, überlege ich, während die Altenpflegehelferin mich wieder anzieht, wenn das ab hier mein Leben wäre? Wenn alle Anstrengungen und jede Therapie im besten Falle die Aussicht auf einen Teilerfolg brächten. Wenn ich entscheiden müsste, zwar gehen, aber nicht allein essen zu können, weil meine Kraft nicht für die Arbeit an beidem reichte?
Brötchen zum Frühstück
Weitere Überlegungen erübrigen sich, denn nun schiebt Kerstin Haag mich in den Speisesaal. Ans Brötchen schmieren ist mit einer Hand nicht zu denken, also übernimmt die Pflegerin das. Essen immerhin kann ich. „Doch so viel Glück haben nicht alle unsere Bewohner“, sagt Haag. Verschärfen wir also die Bedingungen, beim Mittagessen lasse ich mich füttern. Ein wenig skeptisch bin ich, ob ich mir den Mund verbrennen werde und was mache ich, wenn es nicht schmeckt? Das Essen auf das Lätzchen spucken, das mir Wohnbereichsleiter Stanley Rosinsky eben erst umgebunden hat? Doch die Befürchtungen erübrigen sich; die Temperatur des Essens ist gut, ein wenig saftiger könnten die Schupfnudeln sein, aber ich überlebe auch diesen Teil des Selbstversuchs. Nun wäre Zeit, für den Mittagsschlaf. Zeit, zu überlegen, was ich von diesem Tag mitnehme.
Vielleicht ist es nicht so schlimm wie befürchtet, auf Hilfe angewiesen zu sein. Doch so freundlich die Umgebung auch gestaltet sein mag, so nett die Pfleger im Umgang auch sind, sie können mir Freiheit und Eigenständigkeit nicht ersetzen.