Mülheim. Eine Russin, die seit 30 Jahren in Mülheim lebt, spricht über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Warum die 62-Jährige Angst hat.
Sie kann einfach nicht begreifen, welches Elend gerade von ihrer Heimat ausgeht. Seit 30 Jahren lebt Anna Hamisch in Mülheim, geboren wurde die 62-Jährige in St. Petersburg. Mit Entsetzen blickt sie nun von Saarn aus auf die Ukraine und ist fassungslos, wenn sie das Leid sieht, das russische Soldaten auf Geheiß Putins anrichten. Angst, sich offen gegen den Kreml-Chef zu äußern, hat die Mülheimerin nicht.
„Die Lage spitzt sich zu“, sagt Anna Hamisch, und meint damit längst nicht nur die Situation in den Kriegsgebieten, sondern vor allem auch die Stimmung in ihrem Umfeld. Mit vielen, die sie vor Kriegsbeginn ihre Freunde nannte, hat Hamisch inzwischen gebrochen. Zu unverständlich für die 62-Jährige, dass ihre Bekannten, die ebenso wie sie als Russischstämmige in Deutschland leben, an die russische Propaganda glauben, Putin folgen und das Geschehen in der Ukraine gutheißen. Nicht nachvollziehbar für die Saarnerin, die betont: „Ich kann nicht gegen mein Gewissen sagen: Ich finde das richtig.“ Über die Menschen, mit denen sie sich über die Kriegsthematik entzweit hat, sagt sie: „Die betrachten mich als Verräterin.“
Mülheimerin spricht von Hirnwäsche, wenn sie von der russischen Propaganda erzählt
Selbst Russischstämmige, die in einem anderen Land als Russland leben, also die Möglichkeit haben, andere Nachrichten als die aus Putins Reich gesteuerten zu verfolgen, glaubten trotzdem nur der Propaganda, sagt die Mülheimerin und spricht von Hirnwäsche: „Die sagen, Butscha war ein Fake, oder sie sagen, das haben die Ukrainer selbst gemacht.“ Hamisch geht bei solchen Aussagen in die Konfrontation: „Dann entscheidet euch: War das Fake oder waren das die Ukrainer?“ Antworten darauf bekommt sie nicht: „Die schalten dann auf stur.“ Die Saarnerin fordert dann: „Wenn ihr so patriotisch seid, solltet ihr vielleicht den Rucksack packen und dort im Krankenhaus helfen gehen.“
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Sie selbst hilft bereits, engagiert sich für Geflüchtete aus der Ukraine, die in Mülheim ankommen. Die 62-Jährige, die selbst zwei kleine Enkelkinder hat, übersetzt im Gesundheitsamt bei den Vorschuluntersuchungen der ukrainischen Kinder, die wie ihre Mütter Russisch sprechen. „Dafür werde ich dann von meinem Job freigestellt“, sagt die studierte Informatikerin, die als Sachbearbeiterin bei einem Beratungsunternehmen tätig ist.
Mülheimerin übersetzt bei Schuluntersuchung von ukrainischen Kindern
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Die Fluchtgeschichten erinnern sie an ihre Großmutter, die einst in Kiew geboren worden war und im Zweiten Weltkrieg vor den Deutschen fliehen musste, schlägt Anna Hamisch den Bogen zu ihrer eigenen Familiengeschichte, die sie nachvollziehen lässt, was die Geflüchteten durchmachen, bis sie in Mülheim ankommen. Um die hundert Kinder hat die Mülheimerin in den vergangenen Wochen durch die Untersuchungen begleitet. „80 Prozent geben als ihre Muttersprache Russisch an“, beschreibt die Ehrenamtliche und fragt sich, ob Putin in der Ukraine nicht seine eigenen Leute bombardiert: „Die Bindung zu Russland ist dort doch noch da.“
Worin der Sinn dieses Kriegs eigentlich liegt, fragt sich Anna Hamisch oft. Klar ist für sie: „Es ist nur ein einzelner Mensch, der das ausgelöst hat.“ Dass mitunter alle Russen unter Generalverdacht gestellt werden, kann sie schlecht haben. Doch: „Ich hab lange die Lanze für meine Heimat gebrochen – aber jetzt?“
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Sie hält Kontakt zu zwei engen Freundinnen, die in Russland leben. Die eine sage ganz offen, dass sie gegen den Krieg ist. Sie möchte Anna Hamisch beinahe zur Vorsicht mahnen, schließlich könnte es gefährlich werden für diejenigen, die sich im eigenen Land zu offen gegen Putin stellen. Die andere Freundin hingegen habe „wirklich Angst – ich weiß, dass sie gegen Putin ist, aber sie hat große Bedenken sich zu äußern, wenn wir über Whatsapp kommunizieren.“
Sorge, wenn die kleine Enkelin in der Grundschule von der russischen Oma spricht
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Fühlt sie sich als Russin in Deutschland angesichts des Angriffskrieges mittlerweile unsicher? Kürzlich sei sie angefeindet worden, erzählt Hamisch, als sie sich auf einem Spaziergang mit einer Freundin auf Russisch unterhalten hat: „Da kam eine alte Frau vorbei und hat abwertende Bemerkungen gemacht.“ Mehr aber als um sich selbst sorgt sie sich um ihre Enkelin, in deren Grundschulklasse nun auch Kinder aus der Ukraine gehen. Die Achtjährige wollte direkt in der Schule erzählen, dass ihre Oma aus Russland kommt und Russisch spricht, somit vielleicht helfen kann. Doch Anna Hamisch hat das Mädchen ausgebremst: „Du darfst sagen, dass die Oma Russisch kann, aber besser nicht, dass sie aus Russland kommt.“
Eigentlich wollte die Mülheimerin in diesem Jahr endlich wieder ihre Freunde in Russland besuchen, so wie sie vor Corona regelmäßig in ihre Heimat gereist ist. Rückblickend sagt Anna Hamisch: „Ich habe mich in St. Petersburg immer wohlgefühlt.“ Doch ihre Reisepläne liegen seit Kriegsausbruch auf Eis: „Ich hab einfach Angst.“