Mülheim. Vier Flüchtlinge erzählen unter Tränen vom Grauen des Ukraine-Krieges. Sie hoffen, dass die Knallerei an Silvester sie nicht erneut verstört.
Nach zwei Jahreswechseln unter Corona-Restriktionen darf in Mülheim an diesem Silvester wieder ohne Einschränkungen geknallt und geböllert werden. Für viele Flüchtlinge ein beängstigendes Szenario. Sie fürchten kaum auszuhaltende Erinnerungen an die Explosionen im Krieg.
Köchin Natalia (65) und Zahnarzthelferin Jana (30) leben seit September in der Flüchtlingsunterkunft des Deutschen Roten Kreuzes an der Mintarder Straße. Mutter und Tochter stammen aus Charkiw, keine 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Der Krieg hat ihnen entsetzliches Leid zugefügt. Schon im Sommer hatte Amnesty International aus Charkiw berichtet: „Russische Truppen haben durch wahllosen Beschuss mit verbotener Streumunition und durch Raketen auf Wohngebiete hunderte Zivilisten getötet.“
Rakete schlug im Haus ein, tötete ein paar Stockwerke tiefer einen neunjährigen Jungen
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Zitternd, unter Tränen und in einem Redefluss, der kaum ein Ende findet, erinnert sich Natalia an Details: Zum Beispiel an die Rakete, die im dritten Stock ihres Hauses eingeschlagen ist und einen Neunjährigen getötet hat. „Wir saßen im zwölften Stock fest und hatten riesige Angst.“ Oder an die „stillen Bomben“, die die Russen mit Fallschirmen abgeworfen hätten und von denen eine lautlos neben der Nachbarin beim Hundespaziergang landete. „Sie wurde in Stücke gerissen.“
Die Ukrainerin erzählt von permanentem Beschuss, monatelanger Anspannung in ihrem Versteck, einem alten, verlassenen Haus. Und der anstrengenden Flucht: „Ich habe nicht gedacht, dass ich es lebend nach Deutschland schaffe.“ Sie ist Diabetikerin und durch den Stress hat sie „fast das Augenlicht verloren; ich sehe alles nur noch wie im Nebel“. Bis heute vergeht kein einziger Tag ohne entsetzliche Sorgen: Jana ist bei ihr, das ist ein Trost. Aber die zweite Tochter, der Sohn und der Enkel harren in Charkiw aus.
Zu Silvester gilt im Saarner Flüchtlingsdorf eine strenge Böllerverbotszone
Um Menschen wie Natalia zu schützen, die jeder Knall aufzuschrecken vermag, gilt im Saarner Flüchtlingsdorf zu Silvester eine strenge Böllerverbotszone. Dass es zum Jahreswechsel trotzdem laut werden kann, darüber hat das DRK-Team die Bewohner und Bewohnerinnen via Aushang und Whatsapp-Gruppe informiert. Es sei wichtig darauf hinzuweisen, sagt Unterkunftsleiterin Stefanie Spielhagen. Das hätten schon die Sirenen-Warntage gezeigt, an denen sich viele Ukrainer extrem unwohl gefühlt hätten.
Besonders dramatische Folgen können unerwartete Knallgeräusche haben, weiß Flüchtlingsbetreuer Artem Mednikov, der auch als Übersetzer arbeitet. Nach einer Geldautomaten-Sprengung im Frühjahr, die stadtweit zu hören war, habe sein Handy nachts „Sturm geklingelt“. Auch der Anruf einer völlig panischen Frau erreichte ihn: „Sie war mit ihrem Kind bis in die Stadt gerannt, wollte sich im U-Bahnhof am Schloß Broich verstecken. Und hat verzweifelt festgestellt, dass dieser nachts abgeschlossen ist.“
„Mich kann nichts mehr erschrecken.“ Die Erfahrungen im Krieg waren zu heftig
„In friedlichen Zeiten haben wir uns gern Feuerwerk angeschaut“, erzählt Jana, „jetzt ist das anders.“ Ruslan, der vor dem Krieg als IT-Experte in Kachowka unweit der mittlerweile befreiten Stadt Cherson gelebt hat, kann das Gefühl nachvollziehen und sorgt sich zu Silvester vor allem um die Kinder. Für sich stellt er nüchtern fest: „Mich kann nichts mehr erschrecken.“ Die Erfahrungen im Krieg waren zu heftig.
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Vom ersten Tag an sei seine Stadt okkupiert gewesen, erzählt Ruslan, „zuerst hat überhaupt keiner verstanden, was da eigentlich passiert, und wie man vielleicht entkommen kann“. Es seien nicht gleich Bomben gefallen, „aber wir haben andere schreckliche Dinge erfahren“. Die Russen hätten von der Straße weg Männer verschleppt und einfach auf vorbeifahrende Autos das Feuer eröffnet. Seine Heimat gleiche heute einer „Geisterstadt“, stehe nach wie vor unter Beschuss. Das Haus der Familie sei getroffen worden, „aber weil keiner mehr da ist, der nachgucken könnte, weiß ich nicht, wie schlimm der Schaden ist“.
Was, wenn es einen Sabotageakt am Staudamm gibt?
Kachowka geriet zuletzt auch in die Schlagzeilen, weil das Städtchen ein riesiges Wasserkraftwerk hat: Was, wenn es einen Sabotageakt am Staudamm gibt? Über die Krim gelang es dem 35-Jährigen zu fliehen, zusammen mit seiner Mutter. Auch alle Verwandten seien in Sicherheit. „Nach Feiern ist mir trotzdem nicht zumute. Ich wünsche mir für 2023, dass der Krieg vorbei ist und dass wir endlich wieder Ruhe finden.“
Auch Olena sehnt sich sehr danach und hofft, dass ihre Tochter (14) und ihr Sohn (12) „bald wieder eine Kindheit haben dürfen“. Nachdem sie die Geschichten der anderen Flüchtlinge gehört hat, sei sie wieder „in Alarmbereitschaft“, sagt die 40-Jährige, die Emotionen seien stark. „In der Ukraine waren meine Gefühle dagegen oft wie eingefroren.“
„Ich denke immer nur an meine Kinder“
Die Personalleiterin in der Pharmaindustrie musste mit ihren Kindern gleich zweimal fliehen: Zu Beginn des Krieges im Februar ging es über Moldawien und Rumänien nach Ungarn. An Ostern aber kehrte die Familie zurück nach Kiew, im festen Glauben, dass sich alles zum Guten wenden werde. Vor einigen Wochen, nach heftigem Raketenbeschuss des beliebten Schewtschenko-Parks, hielt sie die Angst erneut nicht mehr aus. „Ich denke immer an meine Kinder, habe gesehen, wie sie immer verschlossener wurden.“ Kürzlich kamen die drei in Mülheim an.
Olenas Eltern aber sind nach wie vor in der Ukraine, in Iwano-Frankiwsk. Jener Stadt also, für die die Mülheimer Tschernobyl-Initiative und andere erst kürzlich eine Hilfsaktion auf die Beine gestellt haben. Die Tochter im fernen Deutschland fürchtet sich vor den Böllern, will aber versuchen, die bunten Raketen am Himmel als „Hoffnungszeichen“ zu verstehen.
Flüchtlinge: „Wir wollen uns bei den Deutschen für den herzlichen Empfang bedanken“
„Wir sind von der Hölle ins Paradies gekommen“, so Natalia. Man wolle sich „bei den Deutschen sehr für den herzlichen Empfang bedanken“, sagt sie im Namen aller vier Flüchtlinge. Sie werde nie vergessen, wie sie nach der beschwerlichen Flucht zum ersten Mal am Ruhrufer spazieren ging: „Wir haben uns gefühlt wie im Märchen. Die schöne Natur, die Vögel, das war so beruhigend.“ Die Tränen fließen Natalia auch bei dieser Erinnerung. Sie hat ein Gedicht über den Frieden verfasst, trägt es weinend vor.
Dass die Flüchtlinge – aktuell sind es in Saarn 362 – beim Erzählen von ihren Gefühlen übermannt werden, erleben Stefanie Spielhagen (47) und Artem Mednikov (33) regelmäßig. Die Leiterin der Unterkunft bedauert, dass sie ohne Dolmetscher kein tieferes Gespräch führen kann, oft an der Sprachbarriere scheitert. Ihr Mitarbeiter, der vor 20 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gezogen ist, und seine Übersetzer-Kollegen haben es da einfacher. „Sie sind ganz anders eingebunden.“
Ukrainische Psychologin hilft Jungen und Mädchen mit einer Spielgruppe
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Oft hören sie einfach zu. „Weil Erzählen beim Verarbeiten hilft“, so Mednikov. Für die Kinder gibt es vor Ort auch eine Psychologin, die selbst aus der Ukraine stammt und eine Spielgruppe anbietet. Die Erwachsenen, so glaubt Spielhagen, haben im Flüchtlingsdorf kaum Zeit für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit ihren Erlebnissen: „Sie haben ganz andere Sachen im Kopf, müssen Ämter besuchen, sich um eine Wohnung und um Sprachkurse kümmern.“ Notfalls aber stünden auch städtische Sozialarbeiter zum Gespräch bereit.